Der Zeitgeist nennt es Populismus

Die Unfallstatistik ist ein interessantes Beispiel für die Verlockung, mit der Chiffre des Unglücks differenziertes Betrachten zu verhindern. Hier ein Blick auf die aktuellen Zahlen.

Die Erklärung von Politik ist häufig unterkomplex. Der Zeitgeist nennt es Populismus. Es ist nicht überraschend, dass sich Populismus vor allem auch dort findet, wo er am heftigsten beklagt wird. Bei den Grünen zum Beispiel. Der Parteivorsitzende Robert Habeck hat jetzt angekündigt, dass seine Grünen bei einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene als erste Maßnahme ein Tempolimit auf Autobahnen durchsetzen wollen. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Die Wähler sollen schließlich wissen, woran sie sind, wenn sie ihr Kreuz machen. Und Habeck kann in der Diskussion ja durchaus punkten: Tempo 130 beruhigt den Verkehr, befreit die Schnellstraßen vom staufördernden Ziehharmonika-Effekt, senkt den Treibstoffverbrauch und damit die Abgasbelastung. 

Alles gute Gründe, und die Union hat in der Gestalt ihres designierten Kanzlerkandidaten Markus Söder (CSU) schon mal zugestimmt. Ein generelles Tempolimit sei für ihn kein ideologisches Thema, sagt Söder, der weiß, dass die Grünen die SPD schon sehr bald als dauerhafte Koalitionsoption abgelöst haben werden. Die Jungen links der Union wählen grün, und diejenigen, die ihr Leben lang rot gewählt haben – na ja, so ist der Lauf der Dinge.

Jedes Opfer ist ein Opfer zuviel

Diese im Großen und Ganzen betrübliche und im Einzelfall schmerzliche Überlegung führt uns geradewegs zum eigentlichen Kern des Themas. Der grüne Habeck argumentiert in Sachen Autobahn-Tempolimit nämlich nicht sachlich, sondern emotional. Das limitierte Leben auf den Schnellstraßen diene vor allem der Sicherheit, es gebe „kein Recht auf Rasen“.

Wohlfeile Worte in die Echokammer der grünen Wählerschaft hinein. Purer Populismus.

Und zudem unseriös, weil es die Zahlen nicht hergeben. Daran ändert auch die Binse nichts, dass selbstverständlich jeder im Straßenverkehr getötete Mensch ein Opfer zuviel ist.

Zahlen, Daten, Fakten

Doch zu den Zahlen, Daten, Fakten: Im vergangenen Jahr haben in Deutschland 3046 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen ihr Leben verloren. Nach Angaben des Statistische Bundesamtes (Destatis) starben 2019 im Straßenverkehr 229 Menschen weniger als im Vorjahr. Das ist ein Rückgang von sieben Prozent.

Zum Vergleich: 1970, also vor 50 Jahren, zählte die Unfallstatistik in der alten kleineren Bundesrepublik 21.330 Verkehrstote – eine Horrorbilanz. Und der Abgleich zweier entscheidender Basisgrößen plakatiert das ganze Ausmaß der Katastrophe: 1970 waren in Deutschland (ohne DDR) 19,8 Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen, 2019 war die Zahl mit 57,3 Millionen fast dreimal so hoch. Und ebenfalls verdreifacht hat sich die Gesamtfahrleistung auf den deutschen Straßen: 251 Milliarden Kilometer in 1970, 751,1 Milliarden Kilometer in 2018 (die Zahlen für 2019 liegen noch nicht vor)..

57,7 Prozent der Verkehrstoten auf Landstraßen, 11,7 Prozent auf Autobahnen

Doch zurück zur aktuellen Unfallstatistik: Wie in den Vorjahren ereigneten sich nach Angaben der Statistiker auch 2019 die meisten Unfälle mit Personenschaden innerhalb von Ortschaften (69,2 Prozent). Dort wurden 932 oder 30,6 Prozent der Getöteten registriert. Die meisten Verkehrstoten gab es mit 1758 Opfern auf Landstraßen (57,7 Prozent), gleichzeitig fand dort aber nur jeder vierte Unfall mit Personenschaden statt (24,2 Prozent).

Auf den Autobahnen wurden 6,7 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden und 11,7 Prozent aller Verkehrstoten in Deutschland gezählt, insgesamt also 356 Todesopfer. Das ist viel, im Vergleich zur Gesamtzahl aber wenig. Und die nackte Zahl gibt keine Auskunft über die Unfallart. Die Todesopfer bei Hochgeschwindigkeitsunfällen sind die Ausnahme, nicht die Regel. Die häufigsten Unfallursachen auf der Autobahn sind Unachtsamkeit, Sekundenschlaf, ungenügend gesicherte Unfallstellen und Baustellen-Kollisionen.

Motorradfahrer, Fahrradfahrer, Fußgänger

Insgesamt trifft die Unfallstatistik für 2019 bei den Opfern diese Zuordnungen: 1364 Menschen kamen in einem Personenwagen ums Leben, 605 auf einem Motorrad und 152 in einem Lastwagen. Auf das Fahrrad entfielen 445 Todesopfer,  417 der Verkehrstoten waren Fußgängerinnen und Fußgänger, weitere 63 Verkehrstote konnten keiner dieser Kategorien zugeordnet werden.

Minus 16,5 Prozent seit 2010

Im Vergleich zu 2010 ist die Zahl der Verkehrstoten übrigens um 16,5 Prozent gesunken: minus 25,9 Prozent bei den Autofahrern, minus 14,7 Prozent bei den Motorradfahrern und minus 12,7 Prozent bei den Fußgängern. Negativ ist die Bilanz aber bei den Radfahrern: plus 16,8 Prozent.

Die Unfallstatistik ist so gesehen ein interessantes Beispiel für die Verlockung, mit der Chiffre des Unglücks differenziertes Betrachten zu verhindern.

Wie gesagt, jedes Verkehrsopfer ist ein Opfer zuviel. Aber die Statistik bietet auch diese Zahlen: In Deutschland gibt es gegenwärtig 642.826 Kilometer Straßen, 413.000 Kilometer in den Städten und Gemeinden, knapp 217.000 Kilometer Kreis-; Landes- und Bundesstraßen sowie 13.141 Kilometer Autobahnen. 

Und noch eine Zahl: 11.960 Menschen kamen 2018 in Deutschland bei Unfällen im Haushalt ums Leben. Aber auch diese Zahl lässt sich auf makabere Weise relativieren: 9888 der tödlich verunglückten Haushaltsopfer waren 75 Jahre oder älter, also über 80 Prozent.

Das macht die Sache nicht besser. Aber es reduziert ein Aufregerthema auf die nackten Zahlen. Traurige Zahlen, leider.

Unser Aufmacherbild Die Idylle täuscht: Landstraßen sind besonders unfallträchtig. Foto: motorfuture

Oskar Weber