edition motorfuture: KING > Folge 55

Die Frau nahm das Foto von der Wand und betrachtete es mit ihrem Polizistenblick. „Wer ist der Mann?“

„Das ist der Privatbulle von Stansilaus King“, sagte Teufel. „So eine Mischung aus Bodyguard, Sicherheitsberater und Türsteher. Der Mann heißt Friedo Hoffmann.“

Die Frau betrachtete das Bild.

„Schon mal gehört, den Namen?“

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Schon mal gesehen, den Mann?“ Teufel sah hinauf zu Peter Pan.

Der Junge schüttelte den Kopf.

 

Kapitel 16

Ömers Autodienst reparierte im Erdgeschoss der verwinkelten Liegenschaft am Tempelhofer Damm Fahrzeuge aller Art. Personenwagen, Transporter, leichte Nutzfahrzeuge. Die multikulturelle Kundschaft der Werkstatt bezeugte ihre Dankbarkeit für zuverlässige und vor allem preisgünstige Arbeit in Form persönlicher Treue und emsiger Mund-zu-Mund-Propaganda. Das war gut fürs Geschäft. Ömer, der Enkelsohn eines aus Ostanatolien eingewanderten Hammerschmieds, war Herr über ein halbes Dutzend Hebebühnen und Meister einer ebenso fachkundigen wie improvisationsfreudigen Mechanikertruppe, die, alle Helfer und Helfeshelfer einbezogen, mittlerweile an die zwanzig Mann stark war.

Ömers altmodische Geschäftsidee – solide Arbeit zu bezahlbaren Preisen – wurde seit einem knappen Jahr allerdings von den unromantischen Ambitionen eines neumodischen Immobilienentwicklers bedroht. Rasche Gewinnmaximierung war dem neuen Besitzer des Häuserblocks wichtiger als sentimentale Mieterpflege. Der alte Schuppen musste weg, ehe ein neues Projekt – großzügige Geschossbebauung für Wohnungen, Büros und Praxen, gekrönt von vier Penthäusern mit freiem Blick zum Tempelhofer Feld – ordentlich Rendite einfahren konnte.

Der Immobilienentwickler war ein sportlicher Diplomkaufmann mit Doktortitel von der Universität Innsbruck. Der Mann hieß Krause. Dr. Krause! Der Doktor war wichtig, Krause gab viel auf Marketing. Und mehr noch auf Psychologie. Im Immobiliengeschäft war Vertrauen die halbe Miete. Einem Akademiker vertrauten die Leute, warum auch immer. Einfache Leute wussten nicht, was ein Diplomkaufmann war. Dass ein Doktor studiert sein musste, das war hingegen klar. Jeder professionelle Händler betreibt sein Geschäft zwischen Sein und Schein, der Immobilienhändler sowieso. Krause war Vollprofi. Handeln war seine Leidenschaft, Geld war sein Antrieb. Wer für wenig Geld arbeitete, war doch nur ein armer Depp.

Krauses Geschäftsmodell war schlicht, unverschämt und herzlos. Aber es war legal. Krause kaufte heruntergekommene Bausubstanz der Nachkriegszeit. Dafür lieh er sich Geld von der Bank. Dann führte er den Abnutzungskampf. Das war der schmutzige Teil des Geschäfts. Krause war nicht sentimental. Der Abnutzungskampf war Part of the Deal, und wer den Leuten nicht auf die Füße treten wollte, konnte ja einen schlecht bezahlten Job in der Sozialarbeit machen.

Der Abnutzungskampf – das war nichts anderes als die planvolle Entmietung der neu erworbenen Immobilie durch sukzessive Zerstörung der Substanz. Flexible Mieter akzeptierten Änderungskündigungen deshalb rasch. Die Cleveren kassierten sogar eine Barprämie – und zogen zügig weiter. Das Problem waren die anderen. Die alten Leute, die großen Immigrantenfamilien, die chronisch Kranken, die Suchtkranken, die Langzeitarbeitslosen. Die Verlierertypen. Die Schwachen wollten nicht ausziehen. Oder konnten es nicht. In vielen Fällen kam beides zusammen. Wenn du fünfundsiebzig Jahre alt bist und seit vierzig Jahren in ein und derselben Wohnung lebst, dann hast du nur noch einen Wunsch: dort zu bleiben und dort zu sterben. Das war bedauerlich, aber nicht zu ändern. Krause hatte das System nicht erfunden. Er wollte nur Geld verdienen. (Im Übrigen: Wohin die Wohnraumbewirtschaftung unter einem anderen System ohne Privateigentum führen konnte, hatten doch ein paar wenige Jahrzehnte gerade hier in Berlin gezeigt.)

Der Abnutzungskampf! Das waren Wohnungen ohne Heizung im Winter, ohne Wasser im Sommer, ohne Strom an Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Der Abnutzungskampf! Das waren sogenannte Renovierungsarbeiten in den bereits geräumten Wohnungen: herausgerissene Fenster, herausgerissene Türen, herausgerissene Installation. Der Abnutzungskampf war die höhnische Fratze eines schmutzigen Geschäfts, und Krause vermied es, das böse Wort in den Mund zu nehmen. Maßnahmen! Das klang doch gleich viel verbindlicher. Maßnahmen machten die Treppenhäuser unbegehbar und die Dächer undicht, und Maßnahmen bedeuteten selbstverständlich pausenloses Sägen, Hämmern, Lärmen. Lärm überall im Haus, Dreck überall im Haus. Chaos. Organisiertes Chaos. Tagein, tagaus, Woche für Woche, Monat für Monat. Alle wussten Bescheid. Die Mieter wussten Bescheid, der Mieterverein wusste Bescheid, die Behörden wussten Bescheid. Bis die Baupolizei kam und das Gebäude für unbewohnbar erklärte. „Warum machen Sie das?“, fragte dann ein Mann oder eine Frau vom Amt den Immobilienentwickler. „Warum ich den Fünfzigerjahre-Schrott, den ich gekauft habe, auf seine Sanierbarkeit hin überprüfe?“ Krause beantwortete seine rhetorische Frage stets selbst: „Die Bausubstanz aus der Nachkriegszeit ist nur ein Haufen hingepfuschter Steine und Mörtel. Das sind keine Wohnungen, das sind Löcher. Ich weiß das, Sie wissen das, jeder weiß es.“ – „Und Sie sind der Samariter, der für Abhilfe sorgt.“ – „Ja, der bin ich. Und außerdem bin ich Steuerzahler, der Ihr Gehalt finanziert, vergessen Sie das nicht.“ – „Kernsanierung oder Abriss?“ Meistens lief es auf Abriss hinaus. Krause investierte nur in Sanierungsgebieten. Meistens hatte er den Bauantrag schon in der Tasche, wenn er mit dem Bauamt sprach. Und meistens wurden seine Anträge, die peinlichst genau jede noch so kleine Bauvorschrift erfüllten, nach kurzer Zeit genehmigt. Berlin brauchte Wohnraum. Und der Immobilienentwickler Dr. Krause hatte teure Anwälte.

⇒ Folge 56 morgen bei motorfuture

 

 

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