edition motorfuture: KING > Folge 25

Die Figur in Schwarz schritt über das Spielfeld wie der Spieß vor dem Appell. Die hochaufragende Gestalt wirkte respekteinflößend, aber das breite Gesäß verriet das Geschlecht. Der Schiedsrichter war eine Frau. Eine junge Frau. Das machte die Sache nicht besser, denn die überwiegende Mehrzahl der Zuschauer in der Arena Unter dem Fernsehturm glaubte noch an den Fußball als harten Männersport. Kampf um den Ball, Mann gegen Mann, unrasierte Gesichter, aggressive Athletik. Eine Frau auf dem Platz störte da nur. Und, bitte, sie konnte es ja auch nicht.

Jürgen Toth, Fan der Stuttgarter Hotspurs seit frühester Jugend, sah ratlos aufs Spielfeld hinunter. Im Prinzip huldigte er dem altmodischen Geist der Fairness. Fußball war, bei aller Kommerzialisierung, immer noch ein Sport. Und Sport ohne Fairness war wie guter Wein ohne Gläser. Faktisch vorhanden, aber praktisch wertlos. Im Prinzip war er ein Schiedsrichterversteher. Er wusste, dass das System in den höheren Klassen hoffnungslos überfordert war. Der Platz so groß, das Spiel so schnell, die Athletik so dominant. Dazu die Platzfehler, die Zufälle, die Schauspieleinlagen. Und außerdem war Jürgen Toth ein Fußballromantiker. Er glaubte an Werte wie Treue und Ehrlichkeit, er glaubte an die prinzipielle Unbestechlichkeit der schwarzen Männer (und jetzt auch Frauen).

Jürgen Toth sah also hinunter aufs Spielfeld. Im Strafraum der Spurs bedrängte jetzt eine grün-weiße Spielertraube die junge Schiedsrichterin, die mit einem energischen Überkreuzwinken beider Hände signalisierte, man möge sie auf keinen Fall anfassen. Die Spielleiterin war eine sehr stattliche Frau, gut und gerne einsachtzig groß, aber in der Traube der muskelbepackten, säbelbeinigen und stoppelbärtigen Spielerkanten wirkte sie ziemlich zerbrechlich.

Das Stadion, immerhin mit knapp fünftausend Zuschauern besetzt, tobte. Von den Rängen walzte dumpfe Wut auf den Platz hinunter. Im Fanblock des Gegners krachten zwei Böller. Die Ultras und die übrigen zweitausend mitgereisten Fans der Gästemannschaft feierten. Auf der Uhr standen neunundachtzig Spielminuten, und die Schiedsrichterin hatte soeben einen Elfmeter gepfiffen. Gegen die Spurs. Jürgen Toth hatte die Szene nicht genau gesehen – Foul oder Schwalbe –, er konnte sie also auch nicht wirklich beurteilen. Aber seine Nachbarn auf der Haupttribüne, allesamt Edel-Grüne, standen und schäumten.

 „Fehlentscheidung?“, fragte er seinen Nachbarn.

„Frechheit“, sagte der Mann, der im richtigen Leben im Vorstand eines mittelständischen Maschinenbauers saß. Er deutete nach unten: „Das Mädchen ist völlig überfordert. Warum spielt sie nicht zuhause mit ihrer Strickliesel?“

Jürgen Toth nickte. Er wusste, die Geste würde als Einverständnis aufgenommen, aber so war sie nicht gemeint. Am Elfmeterpunkt stand jetzt der Zehner des Gegners, ein alter junger Mann mit Fußballerbeinen und dunkler Stirnglatze.

„Er wird ihn reinmachen“, sagte er zu seinem Nachbarn. „In der Bundesliga hat er mindestens fünfzehn Stück verwandelt.“

Er wartet die Antwort nicht ab, erhob sich ungelenk und ging zum Ausgang. Auf der Treppe hörte er den Pfiff, und die Zuschauerreaktionen zwei Sekunden später belegten, dass er mit seiner Prognose recht behalten hatte.

 

„Und, habt Ihr gewonnen?“

Apollonia Toth saß viel zu klein in einem viel zu großen Korbstuhl auf der Nord-West-Terrasse. Eine Panoramaplattform über der Stadt inmitten der Stadt – Blick auf den Talkessel, das späte Licht aus Westen eine kitschige Tapete. Der betörende Duft von Rosen auf dieser Terrasse. Überall standen Rosenstöcke in tönernen Töpfen.

Jürgen Toth stellten den Champagnerkühler auf den Tisch, öffnete die Flasche und füllte die Gläser. Sie genehmigten sich jeden Abend eine Flasche Champagner. Das war ihr Ritual nach einem langen Tag. Wenn es das Wetter erlaubte – im Frühjahr, im Sommer, im Herbst – tranken sie auf der Terrasse, an allen anderen Tagen stellten sie sich an den Flügel und sahen hinunter auf die Stadt.

„Nein, wir haben verloren.“

Apollonia schwieg. Sie sah hinunter auf die Stadt. Sie wartete auf den Augenblick. Jürgen würde ihr ein Glas reichen. Dann würde er ihr geradewegs in die Augen schauen und seine rechte Hand um ihren Nacken legen, so dass sie alle fünf Finger spüren konnte. Und dann würde er sie fast beiläufig auf die Stirn küssen, und Apollonia wusste, dass dieser Kuss keine zur Routine erstarrte Geste war. Der abendliche scheinbar flüchtige Kuss auf die Stirn war seine tägliche Liebeserklärung, und sie wusste, dieser Mann liebte sie, und sie liebte ihn. Auch dafür.

„Knapp verloren“, sagte er.

Apollonia hob ihr Glas und sah zu ihrem Mann hinüber, der sich jetzt in den Korbsessel auf der anderen Seite des Tisches gesetzt hatte.

„Schade“, sagte sie.

Der rote Ball im Westen sank jetzt sehr schnell und das Abendlicht war weich und warm, und eine ganze Batterie hysterischer Signalhörner attackierte jetzt das Grundrauschen der Stadt.

Ein Großbrand, dachte Jürgen. Oder sonst ein katastrophenähnliches Szenario. Wenn er Pech hatte, würde gleich das Telefon klingeln. Er war der Chefredakteur. Wenn es darum ging, wirkliche Entscheidungen zu treffen, drückten sich seine Leute. Das war normal.

Er sagte: „Ich fürchte fast, wir sind verpfiffen worden.“

 

⇒ Folge 26 morgen bei motorfuture

 

 

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