edition motorfuture: KING > Folge 28

„Also: Ist es die Geltungssucht, die die Schiedsrichter vermutlich zwanghaft in die Höhle des Löwen treibt?“

„Die Geltungssucht spielt sicherlich eine Rolle. Und wahrscheinlich eine nicht zu kleine…“ Apollonia nickte und deutete auf ihr leeres Glas. „Ich vermute mal, dass es sich bei diesen Leuten häufig um ganz normal gestörte Switcher handelt…“

„Switcher?“

„Ein Begriff aus der SM-Szene.“

„Aus der SM-Szene!“ Jürgen lächelte.

„Sadomaso-Szene, mein Lieber.“

„Aber selbstverständlich.“

Apollonia überlegte einen kurzen Moment, ob es möglicherweise einen Grund gab, sich zu ärgern, entschied sich dann jedoch dagegen. „Switcher meint beide Rollen: dominant und devot.“

„Hab‘ ich mir beinahe gedacht. Aber was hat das mit dem Sportplatz zu tun.“

„Sadomasochistische Spiele sind Inszenierungen. Das passt sehr gut in den Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung. Und je größer das Stadion, desto größer die Bühne.“

„Und der Fußball ist nur das Vehikel für diese Inszenierung.“

„Unsinn, das ist natürlich alles viel subtiler. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es viele Schiedsrichter gibt, die bei sich selbst sadomasochistische Verhaltensmuster vermuten.“ Apollonia legte eine Kunstpause ein. Anwaltsrhetorik. „Es sei denn, seine real gelebte Sexualität geht tatsächlich in diese Richtung.“

„Der Herr Doktor aus Wien lässt grüßen.“

„Meinetwegen. Dass die Suche nach Erfolg und Selbstbestätigung im Sport nicht zuletzt immer auch ein Egotrip ist, wird ja wohl niemand bezweifeln.“

„Natürlich nicht.“ Jürgen Toth lächelte. Er liebte seine Frau.

„So viel ist jedenfalls klar“, fuhr Apollonia fort: „Wenn ein Schiedsrichter in seinem Sport nicht förmlich aufgehen würde, könnte er ihn auf keinen Fall ausüben: Warum sollte er sich einen solchen Stress freiwillig antun? Die Aufgabe und die Umstände sind jedenfalls viel zu schwierig für Zufallstäter.“

Jürgen lächelte wieder. Unter einem Plädoyer macht sie es selten. Bleibt bloß die Frage, für wen oder gegen wen sie plädiert.

Er sagte: „Bleibt also der geltungssüchtige Switcher, der den Fußball liebt – und schon haben wir den charakterlichen Prototypen des Schiedsrichters.“

„Vermutlich ist es tatsächlich so einfach.“

Die Nacht schwärzte sich jetzt zu einem Tuch aus Samt, und die Luft war warm, und die hohe Luftfeuchtigkeit ließ die Lichter der Stadt funkeln.

„Diese Fußballschiedsrichter. Bekommen die eigentlich viel Geld für einen… wie nennt man das?“

„Spieleinsatz. Vermutlich heißt es Spieleinsatz. Und was die Honorare anbelangt…“ Jürgen Toth nahm sein Smartphone vom Tisch. Das war in der Tat eine hochinteressante Frage. Man musste bei der nächsten passenden Gelegenheit mal wieder eine Geschichte zu diesem Thema machen. Er stand auf, ging in den salonähnlichen Wohnraum und machte sich an dem kleinen Sekretär neben der großen Flügeltür eine Notiz: Thema, Schiedsrichter-Honorare, Spätsommer, Vorwoche Saison-Start. Das Google-Ergebnis war inzwischen eingetroffen: Er warf einen Blick auf den Bildschirm und ging zurück in die warme Nacht. Er setzte sich und sagte: „Für einen Erstliga-Einsatz gibt es dreitausendachthundert Euro, ein Zweitliga-Spiel wird mit zweitausend Euro honoriert und ein Drittliga-Spiel mit siebenhundertfünfzig Euro. Außerdem gibt es saisonbezogen so eine Art Grundgehalt: fünfundvierzigtausend Euro für die so genannten FIFA-Schiedsrichter; das sind die, die auch internationale Spiele pfeifen. Bundesliga-Schiedsrichter bekommen zwanzigtausend Euro Jahrespauschale und Zweitliga-Schiedsrichter fünfzehntausend Euro.“

„Das ist nicht gerade viel“, sagte Apollonia.

„Erzähle das mal der Kassiererin im Supermarkt.“

Das werde ich besser bleiben lassen. Die Politik erzählt das Märchen, in diesem Land seien alle Menschen auf Rosen gebettet. Und die Mainstream-Medien verbreiten dieses Märchen. Jürgens Zeitung ist auch nicht frei von dieser Schönfärberei und er selbst auch nicht. Obwohl: Wir sind ja tatsächlich alle auf Rosen gebettet – ein paar von uns beanspruchen die Blüten, und der Rest muss es sich halt auf den Stielen bequem machen und auf den Dornen.

Sie sagte: „Was verdient denn ein durchschnittlicher Bundesligaspieler?“

„Ein guter oder ein schlechter?“

„Ein durchschnittlicher…“

„Ich schätze mal 1,5 Millionen Euro im Jahr.“

„Und wie viele Spiele macht er dafür?“

„Wenn es gut läuft, vierzig.“

Apollonia nahm das Smartphone und tippte die Zahlen ein: „Macht siebenunddreißigtausend Euro pro Spiel. Zu viel oder zu wenig?“

„Frag‘ die Kassiererin“, sagte Jürgen.

„Ich frage den Chefredakteur.“

„Ich kenne einen Club-Manager in der Bundesliga, der drei Millionen Euro im Jahr kassiert. Ohne Prämien. Sein Verein macht einen Jahresumsatz von knapp zweihundert Millionen. Und dann gibt es da einen Trainer, der auf fünf Millionen Euro Jahresgehalt geschätzt wird – bei einem Vereinsumsatz von zweihundertfünfzig Millionen.“

„Zwei Prozent des Gesamtumsatzes nur für den Trainer?“

„Das ist der Deal.“

„Und der Schiedsrichter kassiert dreitauendsachthundert Euro pro Spiel… Und muss sich dafür auch noch anpöbeln lassen.“

„Der Fünf-Millionen-Euro-Trainer jedenfalls spuckt regelmäßig Gift und Galle, wenn ihm eine Schiedsrichter-Entscheidung nicht passt.“

 

⇒ Folge 29 am Montag bei motorfuture

 

 

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