edition motorfuture: KING > Folge 37

Toth und Teufel waren ein gutes Team. Die Anwältin kannte alle Grenzlinien zwischen Recht, Gesetz und Wirklichkeit, und der Ex-Polizist bewegte sich in den teilweise beträchtlichen Grauzonen mit der routinierten Verschlagenheit des einsamen Fährtenlesers und Fallenstellers.

„Sie haben die Ermittlungen also eingestellt.“ 

Sie sah auf den erstaunlich menschenleeren Platz, und im Hochparterre ratterte eine S-Bahn vorbei, und die warme Luft roch nach märkischem Sand und alten Bürgerhäusern. Früher war es aufregender gewesen hier zu sitzen, aber früher, das war lange her. Früher, das war damals gewesen, als buchstäblich jede Minute nach Frühling gerochen hatte. Damals war scheinbar alles besser gewesen, und Apollonia hörte für einen Moment die durcheinanderredenden ernsthaften Stimmen des frischen Erwachsenseins, und sie hatte den feuchten Tabak aus den Plastikbeuteln in der Nase, und ihre Erinnerung an Kafka roch nach der Kreide an der Tafel. Das war lange her, und die Uhr schlug jetzt einen schnelleren Takt.

„Nein.“

Willis Stimme war nah und doch ganz fern.

„Nein?“

„Die Ermittlungen sind nicht eingestellt“, sagt mein Informant. „Sie sind nur praktisch komplett auf Eis gelegt. Und zwar so, dass man sie dann irgendwann auch einstellen kann.“

„Sagt dein Informant.“

Willi nickte nachdenklich. Monika Trauernicht, die Hauptkommissarin beim Kriminaldauerdienst, war seine Informantin. Aber erstens ging das Apollonia Toth nichts an. Ein bisschen Herrschaftswissen war gut. Ein bisschen Geheimniskrämerei auch. Und zweitens hatte sie nie danach gefragt. Sie selbst hätte einen solchen Informanten – und diese Quelle war wirklich gut – ja auch niemals preisgegeben. Und drittens war Willi auch gar nicht sicher, ob und wie Monika, seine lange Zeit so unkomplizierte und jetzt so unglückliche Geliebte, ihre Informantenrolle aktiv spielte: bewusst unbewusst oder unbewusst bewusst oder einfach nur unbewusst. Manchmal redete sie im Zustand faktischer Bewusstlosigkeit – dann nämlich, wenn er sie wieder einmal hinauf zu den Andromedanebeln geschickt hatte –, aber er versicherte sich wieder und wieder und wieder seiner selbst, dass er sie nicht ausnutzte. Ja, sie sprachen über die Arbeit. Ja, ihre Hinweise waren wertvoll, gewissermaßen unbezahlbar. Nein, er nutzte sie nicht aus. Nein, er hinterging sie nicht. Nein, sie verriet keine Staatsgeheimnisse. Nein, sie war nicht doof. Sie wusste, wovon sie sprachen. Die Kommissarin plauderte, und der Detektiv hörte zu. Die Liebhaberin war zärtlich, und der Liebhaber war dankbar.

„Das macht ja mal überhaupt keinen Sinn“, sagte die Anwältin.

„Nein, macht es nicht.“

„Gibt es diesbezügliche Hinweise?“

„Nein, gibt es nicht.“

Willi sah hinaus in den Tag. Der Sommer würde sich schon noch anmelden.

Er sagte: „Und dieser Pawlikowski gibt viel Geld dafür aus, dass wir ermitteln.“

„Er heißt Pawelke. Der Mandant heißt Pawelke, Professor Pawelke. So viel Zeit muss sein.“

Apollonia Toth hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie versuchte einen Rauchring abzusetzen, den eine leise Böe aus Südwest noch im Ansatz verwehte. Es war angenehm warm hier an der Hauswand, und die Frau widerstand der Versuchung, eine der bereit gelegten Wolldecken über die Beine zu legen.

Teufel überlegte: „Weiß dieser Pawelke, der Professor, dass die Ermittlungen auf Eis liegen?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Geben wir ihm diese Information?“

„Warum sollten wir?“

„Eben. Wir haben einen Ermittlungsauftrag, und das Landeskriminalamt hat einen Ermittlungsauftrag, und es ist nicht unser Problem, wenn die Polizei ihre Arbeit nicht ernst nimmt.“

„Merkwürdige Geschichte“, sagte die Anwältin. „Typen wie dieser Pawelke rufen doch jeden Tag mindestens einmal beim Polizeipräsidenten an, um Druck zu machen.“

„Oder zweimal, vormittags und nachmittags.“

Apollonia Toth lächelte. Sie sah zur Eisenbahnunterführung hinüber. Manchmal hatte sie den Weg aus dem Grunewald rüber ins Sophie-Charlotte und wieder zurück zweimal am Tag gemacht. Vormittags und nachmittags. Zu Mittag traf sich die Familie bei Tisch, das gemeinsame Mittagessen war ein Ritual. Rosi, die Perle, hatte gekocht, die Eltern kamen aus der väterlichen Zahnarztpraxis nach oben, und nach dem Essen genehmigte sich das Ehepaar einen Cognac, um nach einem halbstündigen Mittagschläfchen mit dem Bohrer wieder die Kasse zu füllen. Und der schneeweiße Mercedes in der Garage wurde alle vier Jahre erneuert und jedes Mal bar bezahlt. Was für ein entschleunigtes Leben.

„Du bist nicht bei der Sache heute“, sagte Willi.

„Das täuscht.“

Apollonia sah wieder hinüber zur Unterführung. Einfach unter den Gleisen durch, und eine Abzweigung dahinter ging es links in die Sybelstraße und nach wenigen Metern stand man vor der Sophie-Charlotte. Oberstufenschüler – es gibt kein erhabeneres Gefühl. In der Oberstufe denkst du, du bist erwachsen. Und wenn du dich dreißig Jahre später daran erinnerst, weißt du, wie flüchtig das Leben ist. Und wie zäh man sein muss, auch ein gutes Leben auszuhalten.

Sie sagte: „Heute Nachmittag wirst du mich in Hochform erleben.“

„Da wird sich der Herr Professor Pawelke aber freuen.“

„Wir müssen noch ein bisschen Futter für ihn vorbereiten.“

„Natürlich, der Kunde ist König.“

„Es lebe der König!“

⇒ Folge 38 morgen bei motorfuture

 

 

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