edition motorfuture: KING > Folge 40

„Reine Spekulation. Aber naheliegend.“ Der Detektiv zögerte. „Bislang bin ich allerdings davon ausgegangen, dass sich das BKA ausschließlich um Waffen- und Drogengeschäfte kümmert. Und um Terrorismus natürlich.“

„Wetten sind nichts anderes als eine Psycho-Droge“, sagte die Anwältin. „Und noch etwas: Der Fußball selbst ist mittlerweile so etwas wie eine Droge.“

„Wer sagt das?“

„Jürgen sagt das.“

Die Anwältin ließ vorsichtig den Kopf auf dem Hals kreisen. Sie hörte das Knirschen der oberen Halswirbel. Sie sah den Stuttgarter Platz hinunter Richtung Osten. Dort unten, einen Block weiter, hatten früher die Bordsteinschwalben auf Freier gewartet. Und im Eckhaus an der Kaiser-Friedrich-Straße hatten 1967 die Leute der Kommune 1 das spießige Nachkriegs-Deutschland veräppelt. Die K1-Spaßvögel hatten es sich ja zunächst in den Wohnungen von Hans-Magnus Enzensberger und Uwe Johnson drüben in Friedenau gemütlich gemacht – der Dichter lebte vorübergehend in Moskau, der Großschriftsteller in New York –, aber Johnson hatte nach den ersten Berichten über kleinere Scharmützel der Spaßfraktion mit der Polizei und der Springer-Presse die Nerven verloren und seinen Freund Günter Grass beauftragt, die Kommunarden vor die Tür zu setzen. Im Eckhaus Stuttgarter Platz/Kaiser-Friedrich war das berühmte Foto mit den nackten Hinterteilen entstanden, Motto: Das Private ist politisch. Allerdings ist auf dem Foto Fritz Teufels Allerwertester nicht zu sehen. Auf dem saß er zum Zeitpunkt der Aufnahme nämlich in Moabit in U-Haft, wegen der Demonstrationen gegen Herrn Reza Pahlewi, den Schah von Persien. Vorwurf der Anklage: Landfriedensbruch. Apollonia lächelte: Sie hatten den 125 StGB Jahre später im Seminar an eben jenem absurden Beispiel erläutert. Fritz Teufel, der Landfriedensbrecher mit der Nickelbrille, der Attentäter mit dem Wackelpudding. Das Private ist politisch. Ganz genau… Ärsche sind politisch, und der Zeitgeist diktierte selbst dem linken „Spiegel“ die Retusche jeglicher Beweise, dass auch zwischen provokanten Kommunardenbeinen nur ganz profane Hodensäcke baumelten. Apollonia lächelte wieder. Erst blechen, dann sprechen! Die K1-Leute waren sogar geschäftstüchtig. Wenn die so genannte Systempresse Auskunft wollte, musste sie erst einmal großzügig in die Kaffeekasse der Kommune spenden. Bares ist Wahres! Oder: Wollt  Ihr unsere Meinung hören, müsst Ihr auf die D-Mark schwören.

Apollonia lächelte versonnen. Sie kannte diese Geschichten nur aus den Erzählungen ihres Vaters. Der Zahnarzt liebte seine bürgerliche Existenz im Grunewald, das Gesundheitswesen der Nachkriegsrepublik war eine Gelddruckmaschine. Er liebte seine Frau und seine Tochter und seinen weißen Mercedes und die kurzen Röcke der Sprechstundenhilfen und der Patientinnen. Und die Treffen mit den Rotarierfreunden und den Akademischen Seglern waren ihm wichtig. Aber insgeheim bewunderte er diese Apo-Typen, die die Fenster aufrissen und durchlüfteten. Das waren junge Leute mit Arsch in der Hose, die jungen Männer ebenso wie die jungen Frauen. Das war wieder eine Jugend, die sich traute, an den Masken der Spießer zu zerren, und der Zahnarzt war natürlich nicht so bescheuert, mit seiner Bewunderung hausieren zu gehen, aber die kleine Apollonia, seine Prinzessin, war ein ideales Publikum für die Monologe seiner heimlichen Begeisterung für eine Jugend, die erkannt hatte, dass es nach der preußisch penibel durchorganisierten Ungeheuerlichkeit kein Weiter-so geben konnte. Seine Großmutter mütterlicherseits war Jüdin gewesen, und ein Onkel väterlicherseits, ein SS-Standartenführer, hatte sie vor der Verschleppung bewahrt, und er, der Hitlerjunge, hatte an der Tür gelauscht, als der Standartenführer im Herrenzimmer zu seinem Vater gesagt hatte: „Und du sorgst dafür, dass die Jüdin ein für allemal aus Deutschland verschwindet, ein Glück, dass sie so alt ist, sonst könnte ich gar nichts für sie tun.“ Apollonia wusste nichts von dieser Episode der Familiengeschichte. Niemand hatte je ein Wort darüber verloren. Sie war nur der kleine biologische Resonanzboden für die väterliche Bewunderung einer studentischen Jugend nur eine halbe Generation weiter, die sich die unverschämte Selbstgerechtigkeit der Täter nicht mehr bieten lassen wollte. Apollonia lächelte versonnen. Später hatte sie sich zwar über diese skurrile Leidenschaft des Vaters gewundert. Aber der Zahnarzt verschlang auch die Bücher über die Bergsteiger, die praktisch ohne Ausrüstung durch die Eigernordwand gestiegen waren, obwohl er selbst bei Temperaturen unter zehn Grad plus lange Unterhosen trug. Die Antwort war wahrscheinlich ganz einfach, und das machte ihn so liebenswert: Das Dentisten-Dasein in Berlin-West war eine komfortable Sache, aber lieber wäre er ein Desperado gewesen. Apollonia wandte den Kopf gen Westen, wo Willi saß: „Bist du eigentlich mit Fritze verwandt?“

„Mit wem?“

„Na mit Fritz Teufel!“

„Keine Ahnung“, sagte der Detektiv, „nicht, dass ich wüsste.“ Und nach einer kurzen Pause der Selbstvergewisserung, dass er war, wo er war, und dass er bei Sinnen war, und dass er das alles hauptsächlich deshalb tat, um an ein paar kümmerliche Euro zu kommen, damit er seine kümmerliche Existenz um ein paar weitere kümmerliche Atemzüge würde verlängern können: „Darf ich, Verehrteste, den Grund für diese Frage erfahren?“

„Die K1-Leute haben ihre Party ein paar Monate lang im Eckhaus einen Block weiter gefeiert“, antwortete Apollonia geschäftsmäßig. Sie deutete mit dem ausgestreckten linken Arm lässig Richtung Osten. „Ich weiß“, sagte der Detektiv. „Und hier am Stuttgarter Platz ist jetzt auch ein Stolperstein eingelassen…“

Er sah an Apollonia vorbei und deutete auf den Gehweg vor der benachbarten Kneipe.

„Hier, direkt vor dem Lentz.“

⇒ Folge 41 morgen bei motorfuture

 

 

KING. Projekt6 Band 1.

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