edition motorfuture: KING > Folge 41

„Die K1-Leute haben ihre Party ein paar Monate lang im Eckhaus einen Block weiter gefeiert“, antwortete Apollonia geschäftsmäßig. Sie deutete mit dem ausgestreckten linken Arm lässig Richtung Osten. „Ich weiß“, sagte der Detektiv. „Und hier am Stuttgarter Platz ist jetzt auch ein Stolperstein eingelassen…“

Er sah an Apollonia vorbei und deutete auf den Gehweg vor der benachbarten Kneipe.

„Hier, direkt vor dem Lentz.“

Apollonia schwieg.

Teufel zog ein gefaltetes DIN-A4-Blatt aus der Innentasche seiner Lederjacke.

„Hier, ich hab mir den Fall mal näher angeschaut. Berlin.de, Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Über den Bezirk, Geschichte, Stolpersteine – fünf Klicks. Die Rubrik Stolpersteine ist fein säuberlich katalogisiert. Nach Namen und Straßen. Alles muss seine Ordnung haben. Es ist sehr praktisch. Du musst nur den Buchstaben einer Straße oder eines Namens angeben und schon öffnet sich das Grauen in alphabetischer Reihenfolge. Name für Name, Straße für Straße.“

Er sah über den Tisch. Apollonia, klein und zierlich auf ihrem Stuhl. Die Sonnenbrille mit den dunklen Gläsern wie ein Visier vor dem hellen Gesicht.

„Ich habe mir das mal ausgedruckt.“ Teufel entfaltete das Stück Papier. „Man kann sich heutzutage ja alles ausdrucken.“ Er betrachtete die Seite. „Auf dem Stolperstein steht ja nur: Hier wohnte Max Schneid, Jahrgang 1898, deportiert 19.4.1944 Theresienstadt, 1944 Auschwitz, Buchenwald, ermordet 1944.“ Der Detektiv faltete das Blatt wieder zum handlichen Viertelformat. „Viel ist nicht bekannt über Herrn Max Schneid, einen Menschen wie du und ich. Das wenige wurde zusammengetragen und seinem Namen beigefügt in der Stolpersteinkartei des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf.“

Teufel sah über den Tisch. Toth hatte ihm das Gesicht zugewandt. Er konnte die Augen der Frau hinter den schwarzen Gläsern nicht erkennen.

„Als du mich angerufen hast und mich hierher bestellt hast, dachte ich mir, ich will mir das Haus doch einmal genauer anschauen“, fuhr der Detektiv fort. „Das Haus, die Fassade, den Platz vor dem Haus, die Kopfsteinpflasterstraßen, den Bahndamm gegenüber.“ Er hob den Kopf und atmete hörbar ein. „Ich frage mich, ob sich das Grauen hier eingenistet hat.“

Der Platz lag vor ihnen wie eine Uhr, die unablässig tickt, egal, was die Stunde schlägt. Tick-tack-tick-tack-tick-tack. Die Zeit war nur auf der Durchreise.

„Willst du etwas erfahren über Herrn Max Schneid?“ Willi sah über den Tisch. „Das wenige, was man weiß über Herrn Max Schneid?“

„Ja, das interessiert mich.“ Apollonias Stimme war kühl und klar.

„Ich will das nicht mit meinen eigenen Worten erzählen“, sagte Willi. „Ich lese dir einfach vor, was das Stolperstein-Archiv zu sagen hat…“

Er sah hinüber zum Stolperstein. Er entfaltete das Blatt. Er las: 

„Max Schneid, der am 9. Februar 1898 in Stargard (Pommern) geboren ist, hatte bis 1943 einen Wohnsitz in Wielicka bei Krakau. Von dort war er vor 1939, vermutlich aus beruflichen Gründen, nach Berlin gezogen, wo er am Stuttgarter Platz 20 in einem möblierten Zimmer wohnte. Über sein Leben ist wenig überliefert. In einer am 14.4.1944 offenbar nicht von ihm selbst mit Bleistift ausgefüllten ‚Vermögenserklärung‘, die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam lagert, ist als Beruf ‚Kfm.‘ (Kaufmann) angegeben. Weder über seine Einkünfte noch über die Höhe seiner Miete gibt es Notizen. In der Rubrik ‚Jude?‘ steht ‚ja‘, unter Staatsangehörigkeit ist eingetragen: ‚ungeklärt‘.

Außerdem geht aus diesem Formular hervor, dass er von seiner am 8. März 1902 geborenen Frau Gertrud, geb. Hegel, getrennt lebe. Neben ihrem Namen haben die Nazi-Behörden ‚arisch‘ vermerkt, sodass anzunehmen ist, dass er sie vor der Verfolgung als Frau eines Juden schützen wollte. Außerdem sind die Vornamen von zwei Kindern, Peter und Helga, ‚in Krakau lebend‘, angegeben. Über das Schicksal der Familie ist nichts bekannt.

Max Schneid wurde am 9. April 1944 gewaltsam aus seiner Wohnung geholt, in das Sammellager in der Schulstraße 78 gefahren und am 19. April in einem fahrplanmäßigen Personenzug zusammen mit 50 anderen Menschen, überwiegend jüdischen aus von den Nazis so genannten ‚Mischehen‘, vom Anhalter Bahnhof ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Am 29. September 1944 wurde er mit 1500 Menschen nach Auschwitz gebracht, kam dort ins Durchgangslager und wurde am 16. November 1944 ins KZ Buchenwald weitertransportiert, wo er verhungerte.“

Teufel starrte einen Augenblick auf den Ausdruck, als wolle er sich des finalen Schicksals des Ausgestoßenen, des Verschleppten, des Gedemütigten noch einmal versichern. Wo er verhungerte. Dann faltete der Detektiv das Papier sorgfältig und verstaute es in der Innentasche seiner Jacke. Er winkte der Kellnerin und deutete auf seine leere Kaffeetasse.

Apollonia hob ebenfalls die Hand. Der Zeige- und der Mittelfinger symbolisierten die Zahl zwei. Sie wusste Bescheid. Der ganze Bezirk war voller Stolpersteine. Ganz Berlin war voller Stolpersteine. Berlin, die Stadt der Nazis und der Gestapo, war auch die Stadt der Juden gewesen.

Der Himmel über Berlin war jetzt weiß, und die Luft war weich. Im Hochparterre ratterte eine S-Bahn vorbei.

Willi Teufel sagte: „1967 haben die K1-Clowns dort drüben die Gesellschaft zum Narren gehalten. Das ist jetzt knapp fünfzig Jahre her.“

Apollonia Toth warf einen verstohlenen Blick auf den Ermittlungspartner. Sie wusste, worauf er hinauswollte. Er spielt den Harten. Er ist ja auch ziemlich taff, wenn es um Ganoven geht. Aber er hat noch ein anderes Gesicht. Jürgen kann ihn gut leiden. Wahrscheinlich kann er ihn deshalb gut leiden.

„Aber es waren gerade mal gut zwanzig Jahre her, ich meine, bevor die Kommune I lustig war und der bürgerlichen Gesellschaft den Spiegel vor die Nase hielt, als eben diese Gesellschaft hier einen Mitbürger auf die Straße zog“, fuhr der Detektiv fort. Sein Gesicht verriet keine Regung. Er machte sich erneut an seinem Tabakbeutel zu schaffen. Er sagte: „Hier an dieser Stelle, gewissermaßen genau vor unseren Augen, haben sie ein rechtloses menschliches Wesen endgültig seiner obszönen Schutzlosigkeit ausgeliefert.“

Apollonia Toth sah auf den Platz, sah den Stolperstein, dieses kleine erhabene Stück Metall, das seinen matten Schein auf die Ungeheuerlichkeit jener Stunde warf. Sie drehte den Kopf und sah an der Fassade empor. Irgendwo in diesem Haus befand sich das Zimmer, in dem der Mensch Max Schneid viele Wochen und Monate und Jahre völlig auf sich alleine gestellt vor sich hin gebangt hatte.

Sie sah über den Tisch. Der Detektiv widmete sich mit großem Ernst dem erneuten Versuch, aus braunem feuchtem Tabak und einem hauchzarten Stückchen Papier eine Zigarette zu drehen. Seine Miene war völlig ausdruckslos.

Er sagte: „Fußball ist also eine Droge.“

⇒ Folge 42 morgen bei motorfuture

 

 

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