edition motorfuture: KING > Folge 45

Walter Knecht zum Beispiel. Der Schiedsrichterfunktionär verdankte seine Anstellung beim Berliner Senat noch der Vorwendezeit, als jeder West-Berliner, der unfallfrei auf drei zählen konnte, de facto einen Anspruch auf Anstellung im Öffentlichen Dienst hatte. Arbeit gab es keine, einen Grund gab es immer. Und genau genommen war es auch egal, ob man die Subventionen aus Westdeutschland auf öffentliche Gehaltsschecks druckte oder das Geld direkt auf die Konten der Anspruchsberechtigten überwies, deren Ansprüche aus der schlichten Tatsache erwuchsen, dass sie in West-Berlin ausharrten und somit quasi als lebender Organismus diese blitzblanke kleine Insel im kalten, schwarzen, feindseligen Meer des Bösen am Leben, Laufen, Leuchten hielten. So hatte es der Westen beschlossen, so hatte es die Schutzmacht USA verfügt, und die Westdeutschen, Hitlers Erben, schoben die Kohle rüber.

Bei Walter Knecht, dem jungen aufstrebenden Fußballschiedsrichter, war der Fall sowieso klar wie Kloßbrühe. Schiedsrichter? Hatte was mit Sport zu tun. Sport? Ab in die zuständige Senatsverwaltung. Aufgabengebiete? Sollte erstens Nachwuchsschiedsrichterausbildungsprogramme für die Sportlehrerausbildung definieren, konzipieren, implementieren. Lehrerseminare, Fortbildungskurse, Irgendwas-und-Irgendwie-Programme. Sollte sich zweitens, ungleich wichtiger, auf sämtlichen verfügbaren informellen Kanälen darum kümmern, dass das West-Berliner Schiedsrichterwesen stets und immerdar eine feste Größe des westdeutschen Profifußballbetriebes blieb. Klar, dass sich Walter Knecht in diesem überschaubaren Spannungsfeld zunächst einmal für die ausschließliche Förderung seiner persönlichen Schiedsrichterkarriere entschied. Seinen Chefs war’s recht. Bald pfiff der Senatsangestellte regelmäßig Spiele der Fußball-Bundesliga, was den Namen der Stadt und die Existenz der Berliner Senatsverwaltung mit zuverlässiger medialer Macht in die bundesrepublikanische Wirklichkeit transportierte. Spielleiter ist der Berliner Senatsangestellte Walter Knecht. Berlin gehörte dazu, wenigstens West-Berlin. Das war unbezahlbare Systemwerbung für eine an und für sich unbestreitbare De-Facto-Situation, die de jure aber alles andere als geklärt war. Walter Knecht pfiff gut. Er verstand das Spiel: laufen und laufen lassen. Er hatte natürliche Autorität: Ihr macht das Spiel, und ich mache die Ansagen. Er war locker: Ich respektiere euch, aber ihr respektiert mich noch mehr. Walter Knecht stieg auf. Er pfiff Europacupspiele, leitete Länderspiele, wurde schließlich für zwei Welt- und drei Europameisterschaften nominiert.

Der Senatsangestellte war jetzt ein wichtiger Sportbotschafter seiner Stadt, die mittlerweile gar keine Inselstadt mehr war – der Mantel der Geschichte hatte zum dritten Mal innerhalb von siebzig Jahren einen deutschen Staat verweht. Im Gegenteil, Berlin war jetzt wieder groß, sehr groß, aber immer noch schäbig, sehr schäbig. Und als seine aktive Karriere vorbei war, wechselte Walter Knecht, der größte Berliner Fußballschiedsrichter aller Zeiten, nahtlos ins Funktionärsfach, und das war für ihn gut, und es war für Berlin gut, und es war für die Fußballschiedsrichter gut.

 

Walter Knechts bescheidenes Amtszimmer in der Senatsverwaltung Sport des Bundeslandes Berlin – vergilbte Fotos in einfachen Rahmen neben Wimpeln und Urkunden an der Wand, Waschbecken in der Ecke – war jetzt auch schon wieder seit knapp fünfzehn Jahren nicht mehr und nicht weniger als das informelle Zentrum des deutschen Fußballschiedsrichterwesens, und weil auch dieser an und für sich bescheidene Funktionär nicht immer ganz frei von Eitelkeit war, hatte er sich in den frühen Jahren des unerwarteten Ruhmes zuweilen mit diesem Satz vorgestellt: „Ich heiße zwar Knecht, aber bei den Schiedsrichtern bin ich der King“ – eine Selbstbeschreibung, die in der Szene nachhaltige Resonanz gefunden hatte. Was den Fußballern ihr Kaiser war den Schiedsrichtern ihr King.

Der King.

Das war Walter Knecht.

 

„King“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, „du hörst mir ja gar nicht zu“.

„Oh doch, das tue ich“, antwortete Knecht, der auf hundertachtzig war. „Ich höre jedes Wort, jede Silbe, jeden BUCHSTABEN.“

„Na prima“, sagte die Stimme, „und nimm nicht immer alles gleich persönlich“.

„DAS NEHME ICH PERSÖNLICH“, zischte Knecht. Er warf die Füße auf den riesigen Mahagonischreibtisch, der eigentlich viel zu groß war für das kleine Amtszimmer. Er sagte: „Es ist ja nicht so, dass ich keine Augen im Kopf habe.“

„Das ist das Problem“, sagte der Anrufer.

„WAS ist das Problem?“ Walter Knecht war aufgebracht. Er lehnte sich weit in den lederbezogenen Chefsessel zurück, der ebenfalls viel zu groß war für das kleine Amtszimmer. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Das heißt, er wusste sehr genau, wie tückisch und morastig der Spekulationssumpf war, der sich hier vor ihm ausbreitete. Vor ihm, vor den Gremien, vor der Öffentlichkeit. Man musste aufpassen, wohin man trat. Jeder Schritt war gefährlich. Wer auch nur mit dem kleinen Zeh in diesen tödlichen Abgrund geriet, war verloren. Walter Knecht wusste, dass er noch nichts wusste. Aber alles befürchtete. Das machte ihn aggressiv.

⇒ Folge 46 morgen bei motorfuture

 

 

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