edition motorfuture: KING > Folge 46

Walter Knecht wusste, dass er noch nichts wusste. Aber alles befürchtete. Das machte ihn aggressiv.

„Das Problem ist, dass du es selbst gesehen hast. Mit eigenen Augen.“

„Ich habe die TV-Bilder gesehen. MIT EIGENEN AUGEN!“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg.

„Ich vermute mal, Mandy hat einfach nur einen gebrauchten Tag erwischt in Stuttgart“, sagte Knecht matt.

„Sie hat die Regeln gebeugt in Stuttgart“, sagte die Stimme.

Jetzt schwieg Knecht. Er starrte auf seine Füße vor sich auf dem Schreibtisch, Füße, die in teuren Sportschuhen steckten. Ja, Mandy Müller hatte in Stuttgart die Regeln gebeugt. Der Platzverweis – ein Witz. Der Elfmeter kurz vor Spielschluss – eine glatte Fehlentscheidung…

„King, bist du noch da?“

„Ja.“

Walter Knecht nahm die Füße vom Tisch. Er richtete sich auf in seinem riesigen Chefsessel. Er warf einen Blick zum hellen Fenster seiner Dienstzelle. Er versuchte sich zu sammeln. Ja, er hatte den Anruf erwartet. Ja, er hatte noch alle Sinne beisammen. Ja, die Sache stank zum Himmel.

Er sagte: „Ich werde mit ihr reden.“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: „Hältst du es für möglich, dass…“

„NEIN“, brüllte Knecht, „das tue ich NICHT.“ Er bugsierte seine Füße zurück auf die Schreibtischplatte.

„Sie ist deine Favoritin“, sagte die Stimme kalt. „Und: Ihr seid in Berlin.“

Walter Knecht schwieg. Was sollte er dazu sagen? Er hatte sogar Verständnis für diese Anspielungen. Umgekehrt wäre er exakt zu denselben Schlussfolgerungen gekommen. Seine Favoritin… Berlin

„Hat Mandy Geldsorgen?“

Knecht schwieg. Er starrte den Hörer an. Er starrte die Füße in den Sportschuhen auf dem Schreibtisch an. Er starrte Richtung Fenster, ins Licht.

„Ihre Familie… Möglicherweise gibt es ja in der Familie wirtschaftliche Problemlagen?“

„Was soll das sein, ein Verhör?“

„Hat Mandy mal erwähnt, dass sie bedroht wird?“

„Dich haben sie wohl zu heißt gebadet“, schnappte Knecht. „Glaubst du, ich hätte sie vor dem Hintergrund eines solchen Szenarios eingesetzt? Die Polizei hätte ich geholt, das hätte ich getan!“

„Ist ja gut, ich denke ja nur laut.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang jetzt ebenfalls ratlos.

„Du beleidigst meine Intelligenz“, sagt Knecht. „Meine und übrigens auch deine…“

Schweigen in der Leitung.

„Die Berliner Wettpaten sitzen ein, alle drei…“

Schweigen in der Leitung.

„Mag ja sein, dass Nachfolger aktiv sind. In dieser Organisation, in neuen Formierungen, möglicherweise in ganz neuen Konstellationen, organisatorischen Strukturen, landsmannschaftlichen Zusammensetzungen…“

Schweigen in der Leitung.

„Du glaubst doch nicht…“ Walter Knecht betrachtete die Füße in den Schuhen, die wieder auf dem Schreibtisch lagen, über Kreuz aufgestellt wie zwei abstrakte in die Höhe ragende Objekte. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sich hochprofessionelle Betrüger, die ihren Schnitt machen wollen, unseren Leuten mit Bedrohungsszenarien nähern.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte die andere Stimme. „Das gilt jedenfalls, solange ein Kandidat nicht erpressbar ist.“

Walter Knecht schwieg. Er schaute seine Schuhe an. Er schaute ins Licht. Der Fenstersims war staubig.

„Möglicherweise ist sie ja erpressbar…“

„Sie ist siebenundzwanzig. Und angehende Studienrätin. Angehende Beamtin!“

„Eben deshalb… Sex, Drogen, Schulden… Eine Mischung aus allem… Such‘ dir was aus.“ Die andere Stimme war nüchtern und kalt.

„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte der Berliner Schiedsrichter-Obmann matt.

„Das ist ja das Problem. Dass man sich vieles nicht vorstellen kann, was im Privatleben der Leute hinter verschlossenen Türen stattfindet. Und genau das ist es ja, was ein hervorragendes Erpressungspotential ergibt.“

„Drogen, Schulden, sexuelle Eskapaden… Kann ich mir nicht vorstellen bei Mandy“, log Knecht.

„Sie ist deine Favoritin!“

„Nein, ist sie NICHT!“ Knecht wusste, dass das Unsinn war. Er sagte: „Sie ist verdammt noch mal der beste Nachwuchs an der Pfeife, den wir seit langem hatten. In Berlin-Brandenburg, ach was, in ganz Deutschland!“

„Das habe ich bis vor kurzem auch gedacht.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung war sehr ruhig und sehr kalt. „Ist dir mal der Gedanke gekommen, dass…“

„NEIN, VERDAMMT!“

„Lass‘ mich bitte ausreden! Ist dir mal der Gedanke gekommen, dass sie dich um den Finger wickelt?“

„Nein, verdammt“, wiederholte Knecht matt. Er wusste, dass das eine Lüge war. Natürlich hatte er sich genau diese Frage schon x-mal gestellt. Er hörte sich sagen: „Ich lege meine Hand für sie ins Feuer.“

„Das hast du bei Greiner auch gesagt.“

⇒ Folge 47 morgen bei motorfuture

 

 

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