edition motorfuture: KING > FOLGE 62

Diesmal war es der Chef gewesen, der das Uferhotel draußen in Rahnsdorf als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Ein ruhigeres, verschwiegeneres Plätzchen fand sich in ganz Berlin nicht. Und genau das war es, was er jetzt brauchte: ein ruhiges, verschwiegenes Plätzchen, um dem Mädchen Mandy auf den Zahn zu fühlen. Walter „King“ Knecht kochte. Wenn diese Madame Dreck am Stecken hatte, dann würde er sie gleich hier an Ort und Stelle in ihre Einzelteile zerlegen und an die Enten verfüttern. Er hatte sich die Aufzeichnung des Spiels angeschaut. Oh ja! In voller Länge!! Er hatte bei den Fernsehfritzen in Stuttgart angerufen und die komplette Spielaufzeichnung angefordert. Wollte doch mal im Original sehen, was da gelaufen war. In voller Länge und in Farbe! Und wie es gelaufen war. Mit allen Möglichkeiten, die sein DVD-Rekorder hergab: Vorlauf, Rücklauf, Stopp! Schneller Vorlauf, schneller Rücklauf, Stopp! Klar, damit war er im Vorteil, gewissermaßen! Aber er war ja auch nur der Kontrolltyp! Chef auf dem Platz war der Schiedsrichter! Mit allen Nachteilen, vor allem aber mit allen Vorteilen!! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn du neunzig wichtige Minuten lang der Herr der Dinge bist. Dompteur der Spieler. Chef der Trainer und Betreuer. Tribun der Tribünen. Projektionsfigur des Hasses und des Jubels. Sogar die Dauer der Nachspielzeit ist deine Entscheidung und nichts als deine Entscheidung, und dein Wille geschehe auf dem Platz, neunzig Minuten lang in alle Ewigkeit. Mandy war die Schiedsrichterin bei diesem Kack-Kick in Stuttgart gewesen, und deshalb musste sie es sich gefallen lassen, dass ihr Schiedsrichter-Obmann ihre Leistung mit den ganzen fiesen technischen Möglichkeiten seines DVD-Rekorders checkte, bewertete, überprüfte! Vorlauf, Rücklauf, Stopp! Schneller Vorlauf, schneller Rücklauf, Stopp! Und der Bewerter war ER, der Schiri-Chef von Berlin-Brandenburg, Mandys Förderer und, ganz nebenbei, eine Schiedsrichter-Legende! Über vierhundert Spiele in Liga eins und Liga zwei, über einhundert internationale Einsätze!! Wenn er ein Spiel sah, wusste er, ob die Pfeife unten auf dem Platz etwas taugte! Verdammt, es war nicht gut gelaufen in Stuttgart. Mandy Müller war über den Platz gestakst wie ein Storch im Salat. Hatte schlecht gepfiffen, hatte falsch gepfiffen. Die ganze Leistung ein einziger Stuss. Eine komplette Katastrophe.

Der Schiedsrichter-King kochte.

Im Schilf des Dämeritzsees quakten Enten und anderes Getier, das er nicht zuordnen konnte. Er war Fußballregelspezialist und kein Froschforscher.

Er blieb sitzen, als Mandy Müller über die Terrasse schritt. Alles an dieser Frau war eine Spur zu groß und zu pompös. So kam es ihm jedenfalls heute vor. Er nahm ihre Hand achtlos an den Fingerspitzen, um sie gleich wieder loszulassen. Er deutete wortlos auf den Stuhl gegenüber.

Er begann ohne Umschweife: „Du kennst die Geschichte von Rienand, Pachowiak, Wagner und Greiner?“

„Natürlich, jeder…“

„Also gut, dann hör‘ mir mal zu!“

Die junge Schiedsrichterin schwieg und schlug die Augen nieder.

„Ich bin dein großer Förderer. Fast so etwas wie ein Freund. Deshalb hörst du mir jetzt zu!“ Mandy Müller nickte. Ihre kühlen Augen waren plötzlich groß und kindlich und ängstlich. Ihre Mundwinkel zuckten.

„Rienand, Pachowiak, Wagner und Greiner haben den Fußball an den Abgrund geführt. Alle Führungsfiguren durften an der Klippe vortreten und einen Blick auf die tosende See werfen, Orkan, Windstärke zwölf. Die Chefs der Verbände, der Ligen, der Trainer, der Spielergewerkschaft, der Ausbilder, der Vermarkter. Wir Schiedsrichter-Obleute waren auch dabei. Wir standen ganze vorne. Hartes Wetter. Orkanböen. Sturmgepeitschte See unter sehr hoher Klippe. Die Klippenkante selbst brüchiger Grund, notdürftig zusammengehalten von zähem Seegras.“

Die junge Schiedsrichterin hob den Kopf. Sie hatte sich zur Ordnung gerufen. Ihr Blick war jetzt ausdruckslos.

„Das zähe Seegras“, fuhr Knecht fort, „das waren wir. Die Funktionäre. Und nicht zuletzt die Vermarkter. Der Fußball ist ein großes Geschäft für uns. Für jeden von uns. Für die einen größer, für die anderen kleiner. Aber ein lohnendes Geschäft allemal. Für jeden von uns.“

Mandy Müller schwieg. Ihr Blick war ausdruckslos und ihre Mund- und Kinnpartie war jetzt wieder wie in Stein gemeißelt.

Sie ist ein verdammt harter Hund. Walter Knecht gönnte sich ein schmales Lächeln. Er sagte: „Die Vermarkter haben den Fußball damals gerettet. Es geht ums Business, haben sie ihren Deal ganz emotionslos vorgetragen. Wenn wir jetzt nicht an einem Strang ziehen, können wir das Produkt in die Tonne treten.“

Mandy Müller schwieg. Sie sah hinüber zum Schilf, zum See. Ihre Miene war eine Mischung aus Gottergebenheit und Angestrengtheit.

„Hast du dich eigentlich niemals gefragt, wie wir es damals geschafft haben, einen Skandal dieser Tragweite, dieser förmlichen Existenzbedrohung für das komplette System Fußball nach kürzester Zeit unter den Teppich zu kehren?“

Die Blicke trafen sich. Anklage und Geringschätzung. Vielleicht sogar Verachtung.

Sie ist ein verdammtes Miststück. Ich werde ihr den Zahn ziehen, egal, was sie vorzubringen hat.

Walter Knecht lächelte wieder. Dieses Mal schon eine Spur breiter. „Die Vermarkter haben uns zugesagt, den Fall unter den Teppich zu kehren. Keine Recherchen, keine Ergebnisse. Keine Berichterstattung. Auch von dem folgenden Prozess wurde ja nur sehr rudimentär berichtet. Unser Beitrag zum Deal war die Zusage, also die Zusage der Verbände, dass so etwas NIE mehr vorkommt. NIE MEHR! NIEMALS!“

„Wie willst du das verhindern?“

⇒ Folge 63 morgen bei motorfuture

 

 

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