edition motorfuture: KING > Folge 63

Walter Knecht lächelte wieder. Dieses Mal schon eine Spur breiter. „Die Vermarkter haben uns zugesagt, den Fall unter den Teppich zu kehren. Keine Recherchen, keine Ergebnisse. Keine Berichterstattung. Auch von dem folgenden Prozess wurde ja nur sehr rudimentär berichtet. Unser Beitrag zum Deal war die Zusage, also die Zusage der Verbände, dass so etwas NIE mehr vorkommt. NIE MEHR! NIEMALS!“

„Wie willst du das verhindern?“ Der Satz schlüpfte über die Terrasse wie eine Eidechse, und als die junge Schiedsrichterin ihre Worte einfangen wollte, hielt sie nur den Nachhall in der Hand, den Schwanz der flinken Eidechse.

„AHA, die Madame hört mit zu!“

„Tut mir leid.“

„Wie bitte?“

„TUT MIR LEID, mein Gott! Was willst du? Dass ich hier zu Kreuze krieche?“

„Mut hast du ja“, sagte Knecht. Er schöpfte langsam wieder Hoffnung. „Was tut dir leid?“

„Der Satz von eben tut mir leid. Ich weiß, dass so etwas nie wieder passieren darf. NIE WIEDER.“

„Weil das Spiel dann aus ist“, sagte Knecht. Seine Hoffnung wuchs.

„Ja, weil das Spiel dann aus ist. Aber nicht nur das Spiel.“ Mandy Müller sah hinüber zum Schilf. Frösche quakten. „Die Paarungszeit ist längst vorbei“, sagte sie.

„Was sagst du?“

„Frösche paaren sich im Frühjahr“, sagte die junge Frau. „Das Quaken ist ein wichtiger Teil des Balzrituals. Wie bei den Menschen.“

„Biologie ist dein Fach.“

„Ja, Biologie und Sport. Die Schiedsrichterei ist eine Verbindung aus beidem. Jedenfalls, wenn man die Biologie auf den Menschen fokussiert, auf seine Psyche.“

Walter Knecht nickte. Seine Zuversicht wuchs.

„Du weißt, warum ich eine gute Schiedsrichterin bin.“

„Bist du nicht.“

„Warum ich normalerweise eine gute Schiedsrichterin bin…“

Weil du eine Klugscheißerin bist? Weil du deine Dominanz ausleben willst? Weil du eine Profilneurotikerin bist? Weil du vielleicht nicht ganz richtig im Kopf bist, dich Wochenende für Wochenende freiwillig dieser Scheiße auszusetzen? Der Schiedsrichter-King sah spöttisch über den Tisch.

„Weil ich mit Leib und Seele Schiedsrichterin bin“, fuhr Mandy Müller mit jugendlichem Eifer fort.

Sie glaubt daran. Sie glaubt tatsächlich daran. King Knechts Erleichterung wuchs.

„Dieser alte Mann in der Heimmannschaft hat mich bei jeder Entscheidung gegen sein Team beschimpft und beleidigt.“

„Erfahrene Spieler provozieren unerfahrene Schiedsrichter.“

„Er hat mich nicht provoziert, er hat mich beleidigt.“

„Der alte Mann? Du meinst den Sechser.“

„Ja, den Serben, er…“

„Bist du Rassistin?“

„Rassistin?“ Die Biologie-Referendarin lachte. „Mach‘ dich nicht lächerlich, Walter. Soll ich dir den Rassebegriff mal definieren?“

„Nicht nötig, Frau Oberlehrer, ich…“

„Vielleicht doch. Rassismus unter gleichen Ethnien gibt es nicht. Ein Europäer kann einen anderen Europäer diskriminieren, aber nicht rassistisch.“

„Jawohl, Frau Oberlehrer.“

„Ihr Wessis kennt euch sehr gut damit aus. Die Art und Weise, wie ihr nach der Wende die Ossis diskriminiert habt…“

„Jetzt mach‘ mal einen Punkt, Mandy. Zurück zum Thema. Der Sechser hat dich also permanent beschimpft und beleidigt. Warum ist das nicht im Spielbericht vermerkt?“

„Wegen dir!“

„Was sagst du?“

„Du hast schon richtig gehört. Wegen dir! Okay, natürlich auch wegen mir.“

„Du meinst…“ Knecht sah die junge Frau an. Er begann zu verstehen.

„Genau das meine ich“, sagte Mandy Müller. „Er hat mich sexistisch beleidigt, dieses serbische Machoschwein. Permanent. Und zwar unterste Gürtellinie.“

„Und zwar so, dass es kein anderer Spieler gehört hat.“

„Das war der Trick. Er kam praktisch nach jedem Pfiff angerannt und rückte mir auf die Pelle. Dann hielt er die Hand vor den Mund, grinste mich an und textete mich im Flüsterton mit seinen Beschimpfungen zu, mit seinen Drohungen. Wir können uns die TV-Aufzeichnung noch einmal gemeinsam anschauen, dann…“

„Ich habe die Bilder vor Augen“, sagte Knecht. „Der Sechser hat in der Tat permanent den Kontakt gesucht. Aber er hat dich nicht angefasst.“

„Nein, hat er nicht. Der Kerl ist eine Ratte. Aber er ist nicht dumm. Er hat gesagt, er hat Freunde in Berlin und…“

„Ist ja gut, ich will die Details gar nicht wissen.“

„Er hat gesagt, es wird mir gefallen, wenn mich seine Kumpels schön hart ran nehmen…“

„Und so weiter und so fort. Immer schön im Flüsterton. Hinter vorgehaltener Hand. Du hättest ihn trotzdem wegen Schiedsrichterbeleidigung vom Platz stellen können. MÜSSEN!“

„Genau! Und die ganze Schiedsrichter-Firma hätte gefeixt und gelacht. All‘ die Sportskameraden. Deine Freunde, deine Kritiker. ‚Sie kann es nicht, King, siehst du? Sie ist ein Mädchen. Fehlt nur noch, dass sie auf dem Platz das Heulen anfängt. Hör‘ endlich auf mit diesem Gender-Schwachsinn. Mädchen sollen Frauenspiele pfeifen, Punkt!‘ Das hätten deine Kollegen gesagt, und sie hätten sich auf die Schenkel geklopft vor Freude, und du weißt es.“

Knecht suchte den Blick der jungen Frau. Mandy Müller hatte helle, harte Augen.

Verdammt!

„Kein Grund, diesen Idioten wegen eines Allerweltfouls vom Platz zu schicken.“

„Okay, das war ein Fehler“, sagte die Schiedsrichterin. „Er hat sich mit ausführlichen Einlassungen verabschiedet, wo er nach dem Spiel auf mich wartet. Und was er dann mit mir anstellt. Mit mir und meiner Trillerpfeife.“

„Hattest du Angst?“

⇒ Folge 64 am Montag bei motorfuture

 

 

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