edition motorfuture: KING > Folge 68

Die Runde im Oval Office tagte im kleinsten Kreis. Das Meeting hatte keine Tagesordnung. Es hatte noch nicht einmal einen Namen. Und es tauchte in keinem der Terminkalender der fünf anwesenden Männer auf. Neben Vizepräsident Jack Store waren Verteidigungsminister Gerald Liberman, der oberste Sicherheitsberater Louis Halfinger und der Geheimdientskoordinator Port Castillo ins Oval Office gekommen.

„Dann wollen wir mal, meine Herren“, sagte der Präsident. Er lehnte sich in seinen Schreibtischsessel zurück, die Arme über dem Kopf verschränkt. Er sehnte sich nach einer Zigarette.

„Benötigen wir ein Protokoll, Brent?“ Der Vizepräsident stellte die Frage mit einem beiläufigen Blick auf Loretta, die Chefsekretärin des Präsidenten, die mit gezücktem Block neben der Tür saß.

„Kein Protokoll, Jack?“ Der Präsident spielte die Frage mit leichter Hand zurück wie einen Pingpong-Ball.

„Kein Protokoll, Brent.“

„Gut, kein Protokoll. Danke, Loretta, wir brauchen Sie im Moment nicht.“

Der Präsident wartete, bis die Sekretärin den Raum verlassen hatte.

Dann musterte er die vier Männer der Reihe nach und sagte: „Wir reden heute über Syrien, den Irak, Iran, unsere saudischen Freunde, Jordanien. Israel natürlich. Keine Erörterung ohne Israel. Wir reden über unseren Partner Türkei und die Kurden diesseits und jenseits der NATO-Grenzen. Wir reden über Russland, die Ukraine, das Baltikum. Wir reden über den Exodus, der gerade über unseren EU-Freunden zusammenschlägt. Und wir reden über unsere Freunde hier in Washington.“ Der Präsident blickte versonnen in die Runde und trommelte mit den Fingern geschmeidig auf die Lehne seines Stuhls. Brent Oliver war ein ausgezeichneter Klavierspieler. Er sagte: „Da sind Leute darunter, die am Sonntag vor dem Kirchgang in der Garage noch kurz die Tochter des Nachbarn vögeln, und nach dem Amen bauen sie sich vor der nächsten Kamera auf, erzählen irgendeine verdammte Lüge und beschimpfen die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika wahlweise als gottloses Gesindel, als Vaterlandsverräter oder als kommunistische Kader, je nach Thema und ganz nach Lust und Laune.“

„Du hast recht“, sagte Jack Store, der Vizepräsident, „wir sollten, wir müssen uns mal wieder einen von den Knaben vorknöpfen. Nehmen wir doch den Garagenvögler… Er wird den Tag verfluchen, an dem er geboren wurde, wenn die ersten kleinen gemeinen Verdachtsmomente in seinen kleinen, beschissenen, bigotten Bibelstaat sickern. Die Sache ist hervorragend dokumentiert.“

Der Vizepräsident lächelte zufrieden, und die anderen Männer grinsten, und das Gesicht des Präsidenten war eine gefährliche Maske.

„Aber bevor wir heute auch darüber reden, müssen wir uns, fürchte ich, kurz mit dem Problem befassen.“

„Aber sicher, das Problem. Es gibt ja auch noch das Problem. Gut, meine Herren, fangen wir mit dem unerfreulichsten aller unerfreulichen Themen an.“

Die müden Augen des amerikanischen Präsidenten wanderten über den ausladenden Schreibtisch. Wenn man von dieser Sache erfährt, fühlt es sich im ersten Augenblick an, als leide man unter Wahnvorstellungen, hatte er an dieser Stelle einmal ausgeführt. Im selben Raum. In derselben Runde. Von einem Schock zu reden würde den Sachverhalt nicht richtig wiedergeben, hatte er damals gesagt, immer noch überwältigt vom Abgrund dieser… Hölle. Gott, steh uns bei! Nein, das war kein Alptraum. Ein Alptraum ist etwas, aus dem man früher oder später erwacht. Man ist zu Tode erschrocken. Vielleicht erschöpft. Aber alles ist gut. Das Problem hatte eine andere Dimension. Diese Geschichte war durch und durch beunruhigend. Nicht, weil sie Kern einer akut drohenden Gefahr war. Obwohl. Die latent lauernden Katastrophen sind ja die übelsten Hypotheken überhaupt. Jeder kennt die Gefahr, zivilisierte Gesellschaften wappnen sich mit Katastrophenplänen, aber das Ereignis selbst bleibt seltsam theoretisch. Bis es dann plötzlich – und immer aus heiterem Himmel – doch passiert. Erdbeben, Kernschmelzen, Tsunamis. Hier war der Sachverhalt gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Das Problem war real. Es war greifbar, obwohl es nicht begreifbar war. Es ist die parapsychische Dimension des Komplexes, die mich beunruhigt, außerordentlich beunruhigt, hatte Brent Oliver damals an diesem Ort in dieser Runde gesagt. Nein, er hatte keine Angst. Hatte nie Angst gehabt. Er war ein amerikanischer Junge aus der amerikanischen Oberschicht. Intelligent, sportlich, gutaussehend. Keinerlei Grund, irgendein Gefühl der Schwäche – und nichts anderes war Angst – zu akzeptieren. Sein ganzes Leben war immerzu ein gemachtes Bett gewesen. Voller Komfort und Sicherheit. Erst das Problem hatte ihn mit dem Gesicht voraus in den parfümierten Scheißhaufen getunkt, denn nichts anderes ist die kümmerliche menschliche Existenz aus Fressen und Verdauen und Nichts-Wissen und Nichts-Begreifen. Und das Einzige, das einige Wenige wenigstens kapieren, ist, dass der schwere schwarze Vorhang, vor dem wir ein Leben lang stehen, uns ein Leben lang von jeglicher Erkenntnis trennt. Brent Oliver war der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und doch stand er wie ein dummer Junge vor dem schwarzen Vorhang. Das immerhin hatte das Problem bewirkt. Er hatte jetzt ein Gefühl von der Beschaffenheit der Angst. Er wusste jetzt, wie sich das Tier anfühlt, wie es knurrt, wie es riecht.

⇒ Folge 69 morgen bei motorfuture

 

 

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