edition motorfuture: KING > Folge 69

Brent Oliver war der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und doch stand er wie ein dummer Junge vor dem schwarzen Vorhang. Das immerhin hatte das Problem bewirkt. Er hatte jetzt ein Gefühl von der Beschaffenheit der Angst. Er wusste jetzt, wie sich das Tier anfühlt, wie es knurrt, wie es riecht.

Die Männer schwiegen. Zwei von ihnen saßen auf einem grün-beige gemusterten Kanapee, die beiden anderen auf Stühlen links und rechts an der Stirnseite des Schreibtischs.

Brent Oliver sah in die Runde. Er forschte in den Augen dieser Männer. „Das Problem also. Wir haben damals einen Fehler gemacht, ist es nicht so? Wir waren zu kultiviert, zu nachgiebig. Zu weich. Man könnte auch sagen, wir waren zu naiv. Okay, ich war zu weich, zu naiv. Einverstanden?“

Die Männer schwiegen. Die Zeit der Widerworte war längst vorbei. Niemand würde wagen, diesen seltenen Anflug von Selbstkritik auch nur im Ansatz zu bestätigen.

Der Präsident nickte. Er wusste, was seine Chefberater dachten. Er sagte: „In der Nachbetrachtung muss ich sagen, es wäre außerordentlich hilfreich gewesen, einer von Ihnen hätte mir die Skrupel genommen, damals.“

Die Männer schwiegen.

„Also Leute, was ist mit dieser Scheiße da drüben in Berlin? Wer möchte anfangen?“

„Vielleicht sollte Port Castillo anfangen“, sagte der Vizepräsident. „Port hat den kompletten Ermittlungsstand auf dem Schirm, und ich würde vorschlagen, damit anzufangen.“

Der Präsident nickte zustimmend: „Bitte, Mr. Castillo…“

Der Geheimdienstkoordinator räusperte sich. „Nun, äh, Mr. President, meine Herren, ich möchte Sie hier nicht mit den Details bezüglich der nicht immer ganz einfachen Abstimmungs- und Kommunikationsthemen zwischen den Diensten langweilen.“

Jeder der Anwesenden wusste nur zu gut, was gemeint war. CIA, NSA und FBI schoben den schwarzen Peter wieder einmal im Kreis herum. Die vermeintlichen und auch die tatsächlichen Pannen der Staatsaffäre hatten dem ohnehin belasteten Verhältnis der Dienste untereinander weitere schwere Beschädigungen zugefügt. Damals war es so gewesen, und heute war es wieder so.

„Ich, äh, würde die Runde aber gerne für eine Entwicklung sensibilisieren, die jetzt jederzeit wieder eine gefährliche Eigendynamik entwickeln könnte.“

Jeder in der Runde wusste, was gemeint war. Der Präsident und der Vizepräsident tauschten Blicke.

„Ich hätte gerne, nun, einen Beschluss, wie ich in dieser Sache weiter verfahren oder taktieren soll. Es ist mir durchaus bewusst, dass diese Beschlusslage nur inoffiziellen Charakter haben kann. Aber gerade weil der politische Hintergrund so brisant ist, wäre es für meine Arbeit außerordentlich hilfreich, wenn wir an dieser Stelle gemeinsam eine Art roter Faden skizzieren könnten.“

Louis Halfinger, der oberste Sicherheitsberater, hob den Finger, und der Präsident erteilte ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken das Wort.

„Wir haben unseren Freunden ein bisschen Dampf gemacht“, sagte Halfinger. „Das ist doch richtig, Port, oder nicht?“

„Richtig.“ Castillo nickte.

„Das heißt im Umkehrschluss, wir sind für diese jüngste Eigendynamik in gewisser Weise auch selbst verantwortlich.“

„Richtig.“

„Okay, Port… Wenn ich auf dem richtigen Stand bin, kommen die fraglichen Entwicklungen momentan komplett von dritter Seite.“

„Korrekt.“

„Mossad.“

„Das ist unsere Vermutung.“

„Vermutung?“ Jack Stores Stimmlage war eine Mischung aus Hohn und Aggressivität. Der Vizepräsident hatte jede Verbindlichkeit über Bord geworfen, seit ihm klar war, dass seine Chancen auf eine Nachfolgenominierung wegen der anhaltenden Geheimdienst-Pannenserie der amtierenden Regierung praktisch gegen Null tendierten. „Kommen Sie, Port, das ist nicht Ihr Ernst. Die Nummern drüben in Berlin vor der Adolf-Hitler-Kampfbahn und draußen in dem Wald bei Berlin sind knapp zwei Wochen durch, und Sie sprechen von Vermutungen?“

„Exakt das ist meine Formulierung.“

Der Geheimdienstkoordinator schenkte dem Vizepräsidenten ein nachdenkliches Lächeln. „Wissen Sie, Jack, der Job der Dienste ist es nicht, in einen überdimensionierten Sessel zu furzen oder vor Fähnchen schwenkenden Hausfrauen pathetische Reden zum Muttertag zu halten. Unsere Leute halten ihren Arsch in den Wind und…“

„Bitte, meine Herren“, sagte der Präsident müde. „Das alles haben wir hier schon hundertmal besprochen.“

„Die Hinweise auf unsere Freunde im Nahen Osten basieren ja auf einer durchaus konkreten Faktenlage“, sagte Sicherheitsberater Louis Halfinger geschäftsmäßig.

„Das ist korrekt“, bestätigte der Geheimdienstkoordinator, „das Auto vor dem Berliner Olympiastadion wurde mit Semtex in die Luft gesprengt.“

„Stan Kings Auto.“

„Korrekt, Mr. President.“

„Der Mossad arbeitet mit Semtex, um falsche Fährten zu legen.“

„Exakt, Mr. President. Die Tschechen haben den Stoff vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in großen Mengen in den Nahen Osten geliefert: Libyen, Syrien, Libanon, Palästina… Immer wenn Semtex im Spiel ist, müssen wir also zunächst einmal diesbezügliche Optionen prüfen. Im vorliegenden Fall macht das aber keinen Sinn, wie wir alle wissen.“

Brent Oliver nickte.

„Der Mossad hingegen macht sehr wohl Sinn“, fuhr Port Castillo fort. „Wir haben es mit dieser Konstellation ja schon einmal zu tun gehabt, was die vorliegende Problemlage anbelangt.“

„Kings Auto wurde definitiv mit Semtex in die Luft gesprengt?“

„Das ist das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung beim Landeskriminalamt Berlin. Semtex H. Der oder die Täter haben die Ladung an den Wagenboden geklebt. Vermutlich um die fünfzig Gramm. Höhe Rücksitzbank.“

„Sind das Originalermittlungsergebnisse oder haben wir nur mitgehört?“

„Beides.“

„Zünder?“

„Fernzündung. Ausführung hochprofessionell.“

„Verdächtige? Konkreter Tatverdacht?“

„Fehlanzeige.“

Brent Oliver nickte. Er sah über den Schreibtisch hinweg. Port Castillo, das war ein guter Mann. Louis Halfinger ebenso. Das waren Leute, denen man vertrauen konnte. Jack Store saß in seinem Sessel und schmollte. Wie eigentlich immer in letzter Zeit. Liberman, der Verteidigungsminister, war nicht bei der Sache. Der kleine, schmale Mann blätterte auf seinem Tablet in einer Beschlussvorlage. Das Thema war nicht wirklich sein Thema, obwohl er, genau genommen, eigentlich für das Problem zuständig war.

⇒ Folge 70 morgen bei motorfuture

 

 

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