edition motorfuture: KING > Folge 77

Dann wissen Sie sicherlich auch, warum das LKA den Fall zu den Akten gelegt hat.“

„Nein, das weiß ich… das wissen wir nicht. Die Ermittler beim LKA wissen es ja selber nicht.“

„Haben Sie eine Vermutung?“

„Anweisung von oben, von ganz oben, sagen meine… sagen unsere Quellen.“

„Von oben, von ganz oben“, wiederholte Pawelke. „Dann muss…“ Der Satz blieb unvollständig. Die beiden Worte schwebten im Raum wie ein böses Omen.

„Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Fall möglichweise noch eine ganz andere Dimension hat“, sagte Apollonia Toth. Sie warf einen Seitenblick auf Willi Teufel. „Herr King und sein Sicherheitsberater haben sich bei unserem Gespräch unsichtbare Bälle zugeworfen.“

„Unsichtbare was?“

„Bälle. Unsichtbare Bälle. Sie haben sich kryptisch zu einem Thema verständigt, das sie definitiv nicht mit uns teilen wollten.“

„Sie sprechen in Rätseln.“

„Sie kamen mir vor wie Eltern, die vor ihren Kleinkindern eine Fremdsprache benutzen, wenn sie über die Großeltern oder die Nachbarn herziehen“, sagte die Anwältin.

„Und?“ In den Augen des Aufsichtsratsvorsitzenden blitzte wieder das Leben. „Haben Sie eine Vermutung, einen Verdacht?“

„Nein“, sagte der Detektiv, „wir haben natürlich nachgefragt, aber…“ Teufel sah hinüber zu Apollonia Toth. Ihre Augen sagten nein. Mittlerweile verstanden sie sich ohne Worte. Teufel stellte also die naheliegende Nachfrage nicht – warum denn der in Politik und Verwaltung immer noch bestens verdrahtete Pawelke bei ihrem vorausgegangenen Treffen geheimnisvolle Andeutungen bezüglich der Verfahrensverschleppung gemacht hatte, von denen er jetzt nichts mehr zu wissen schien.

„Aber?“ Der Professor schien müde.

„Ihr Sponsor… das heißt, sein Sicherheitsberater hat uns eine sehr direkte Antwort gegeben. Das Gespräch wurde abrupt beendet und wir wurden hinaus komplementiert.“ Teufel zögerte. „Das ändert nichts daran, dass wir die Attentäterin auf Herrn Kings Auto, also die Mörderin seines Chauffeurs, praktisch überführt haben.“

„Das glauben Sie.“ Pawelke sandte einen kalten Blick hinüber zum Besuchertisch. „Sie haben ein Foto, das Frau Schulz und diesen Kesselring gemeinsam vor einem Motorrad zeigt. Und Sie haben ein One-Way-Ticket nach Vietnam.“

„Das Foto ist das Motiv und das Ticket bedeutet Fluchtgefahr“, sagte die Anwältin.

„Erzählen Sie das mal einem Haftrichter“, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende müde. Innerlich fluchte er. Wenn die Schulz tatsächlich die Täterin war, hatte er ein echtes Problem. Resozialisierung, Zurückführung in die Gesellschaft, Gnade. Großzügigkeit des Rechtsstaats! Versöhnung mit den Mördern des Terrors! Mit diesen Argumenten hatte er damals für die Einstellung seiner Schwippschwägerin geworben. Und genau diese Argumente würden ihm die Freunde des Berliner Boulevards jetzt um die Ohren schlagen. Der Haudegen von früher, würden sie spotten, war im Strudel des Zeitgeistes zum Weichei mutiert. Weichei. Genau das war er. Schon immer gewesen. Immer die härtesten Sprüche geklopft. Immer den starken Mann markiert. Und immer schön weggeduckt, wenn die ersten Kugeln flogen. „Erzählen Sie das mal einem Haftrichter“, wiederholte er matt.

„Wir haben ja noch ein bisschen mehr“, sagte Teufel.

Pawelke sah wieder hinüber zum Besuchertisch. Er deutete mit einem Kopfnicken Zustimmung an. Er wusste, was kommen würde.

„Semtex“, sagte der Detektiv. „Die Sprengladung bestand aus einem Päckchen Semtex. Wir wissen, dass der Ostblock, dass die Tschechen dieses Wunderwerk der Explosionschemie in den sechziger und siebziger Jahren in großzügigen Mengen in den Nahen Osten exportiert haben… geliefert haben.“

Der Professor zeigt wieder sein sparsames Nicken. „Das Zeug ging in den Nahen Osten. Berlin gehört meines Wissens zu Westeuropa.“

„Die RAF-Leute haben ihre Waffenausbildung bei der Al-Fatah in Jordanien absolviert. Die Araber haben ihre deutschen Freunde nicht nur mit Knowhow, sondern auch mit Material beliefert. Und ganz abgesehen davon: Die Stasi hat die RAF ebenfalls massiv unterstützt und Ost-Berlin und die DDR gehörten damals nicht zu Westeuropa.“

„Das ist lange her“, sagte Pawelke müde. „Wie also sollte Frau Schulze heutzutage an Semtex kommen?“

„Erdbunker“, sagte der Detektiv düster. „Die RAF und die Roten Zellen und ihre Nachfolger haben ihre Ausrüstung damals in Erdbunkern irgendwo im Wald deponiert. Waffen, Munition, Sprengstoff. Gut verpackt in Plastikfolien und wasserdichten Behältern.“

„Und Frau Schulz, unsere Frau Schulz ist also nach all‘ den Jahren mit dem Spaten in den Wald gegangen, hat eine Portion Semtex ausgegraben und zu Hause einen Sprengsatz mit Fernzünder gebastelt.“

„So könnte es gewesen sein“, sagte Teufel kalt. „Sie weiß jedenfalls, wo das Material versteckt ist. Immer noch versteckt ist. Und sie weiß, wie man einen Fernzünder baut.“

„Nach all‘ den Jahren“, wiederholte der Professor.

„Manche Dinge verlernt man nie“, sagte die Anwältin. „Wir wissen natürlich nicht, wo sie den Sprengsatz gebaut hat. Das müssen wir sie fragen. Vielleicht hat sie auch hier einen Raum gefunden, wo sie ungestört arbeiten konnte.“

„Hier?“

„Ja, hier im Olympiastadion. Eine Werkstatt, einen Lagerraum, eine Asservatenkammer. Möglichkeiten gibt es in einem so riesigen und alten Kasten ja sicherlich zur Genüge.“

Das Gesicht des Professors war jetzt weiß wie ein Leichentuch.

⇒ Folge 78 am Montag bei motorfuture

 

 

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