edition motorfuture: KING > Folge 79

„Und deshalb wird sie ganz sicher keinen weiteren Mord gestehen. Sie würde in einem Urteil nämlich Sicherungsverwahrung bekommen und nie wieder auch nur einen Schritt in Freiheit tun.“

„Vielleicht will sie das gar nicht.“ Teufels Stimme war leise, aber klar, und sein Blick war ausdruckslos.

„Noch eine Vermutung…“

„Mehr als eine Vermutung, Herr Professor.“

„Nämlich?“

„Mein Instinkt… es ist mein Instinkt. Die Erfahrung. Mit den Jahren lernt man, wie das Verbrechen funktioniert. Wie Verbrecher funktionieren. Wie Motive funktionieren.“

„Instinkt. Erfahrung. Vermutungen. Nichts als Vermutungen. Und das soll ausreichen, einen Menschen wie Frau Schulz zu einem Geständnis zu bewegen?“

„Ja, das wird reichen“, sagte Teufel. Der Detektiv wunderte sich. Der Auftrag hatte gelautet, einen Mörder zu ermitteln, und jetzt stand der Fall vor der Lösung, aber der Auftraggeber wollte plötzlich nichts mehr davon wissen.

„Instinkt. Erfahrung. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ Kläglicher Hohn, verzweifelter Spott.

„Ich bin Polizist, Herr Professor. Seit dreißig Jahren. Man entwickelt ein Gespür für Menschen, für Tatverdächtige.“

„Und dieses Gespür sagt Ihnen?“

„Dass sich Frau Schulz nicht wohl fühlt in ihrer Haut.“

„Dass sie was?“

„Dass sie sich nicht wohl fühlt in ihrer Haut. Ist Ihnen als Chef das nie aufgefallen?“

„Nein“, log der Aufsichtsratsvorsitzende.

„Na ja, Sie denken vermutlich, Frau Schulz müsste Ihnen dankbar sein.“ Teufels Blick blieb völlig ausdruckslos. „Und genau genommen ist es ja auch so. Sie müsste Ihnen dankbar sein. Aber so ist es nicht. Gefühle sind nicht logisch. Das Gegenteil ist der Fall. Frau Schulz möchte dieses Leben nicht leben. Es ist die Art von Leben, die sie immer verachtet hat. Verabscheut hat. Das Leben einer Kleinbürgerin. Frau Schulz fühlt sich nicht nur nicht wohl in ihrer Haut, sie hasst sich sogar. Sie hasst sich für das Leben, das sie jetzt führt.“

„Hass“, sagte Pawelke. Er sah hinüber zum Besuchertisch, aber er sah über die Köpfe der beiden Besucher hinweg.

„Selbsthass“, bestätigte Teufel. „Frau Schulz‘ Selbsthass wird uns das Geständnis bringen. Kurz und schmerzlos. Sie wird uns ihr Motiv nennen. Sie verrottet lieber hinter Gittern, als in Freiheit ein Leben als ältliche Sekretärin zu fristen.“

 

 

Kapitel 26

Frau Schulz wusste, dass die Berliner Luft dünn wurde. Irgendjemand war in ihre Wohnung eingedrungen. Vermutlich dieser penetrante Ex-Bulle. Die Markierung, die sie seit den alten Tagen gewohnheitsmäßig an der Eingangstür anbrachte, sobald sie das Haus verließ, lag zerrissen am Boden. Aber die Vorsichtsmaßnahme war in diesem Fall gar nicht nötig gewesen. Die alte Hexe von unten hatte ihr im Treppenhaus aufgelauert. „Hat der Pole die Unterlagen abgeliefert?“ – „Der Pole?“ – „Ja, der Pole. Brutales Gesicht. Abgewetzte Lederjacke.“ – „Ja, hat er.“ – „Was beschäftigt Ihr für Leute da in Eurem Verein?“ – „Das müssen Sie Ihren Neffen fragen.“ Frau Schulze war die Treppe hinauf gegangen, die Eingangstür der Erdgeschosswohnung hatte sich mit einem lauten Krachen wieder geschlossen. „Der Pole“, murmelte sie und schob die zerrissenen Papierstreifen mit dem Fuß weg. Dummerweise hatte sie das Foto mit Kesselring auf dem Sideboard stehen lassen. Ein kindischer Anfängerfehler, zugegeben. Sie wollte, wenn sie nach Hause kam, Kesselrings Visage sehen. Und, altes Arschloch, wie fühlt es sich an, wenn man auf dem Weg ins Jenseits in tausend Einzelteile zerlegt wird? Noch nachlässiger war es allerdings gewesen, das Vietnam-Ticket offen herum liegen zu lassen. Sie wurde alt. So ein Fehler wäre ihr früher nicht passiert. Der Flug ging erst in drei Wochen – ein Billigticket zum Spartarif –, das verschaffte ihr vielleicht ein wenig Zeit. Das Ticket, Tegel via Frankfurt nach Hanoi, war jetzt natürlich wertlos. Frau Schulze packte in Ruhe ihre Sachen. Nur das Nötigste. Ihr Kopf arbeitete präzise. Sie würde mit dem Auto nach Paris fahren, zwei oder drei Tage bei Freunden untertauchen und von dort mit einem neuen Ticket nach Vietnam fliegen. In Hanoi würde sie endgültig von der Bildfläche verschwinden. Ein für allemal. Die alten Verbindungen funktionierten noch, auch wenn die Kampfgenossen grau geworden waren. Genau wie sie. Grau waren sie geworden, aber das Feuer loderte noch. Sie würde keine neuen Papiere brauchen, Interpol konnte erst eingeschaltet werden, wenn ein Haftbefehl vorlag. Und dafür gab es keinen Grund. Ein paar Indizien vielleicht, aber keine Beweise. Ihr Kopf arbeitete präzise, und Frau Schulz dämpfte die aufkommende Euphorie. Sie packte in Ruhe ihre Sachen. Bevor sie aufbrach, würde sie sich noch in Nachbars Garage ein unscheinbares Fluchtauto besorgen. Sicher war sicher. Ihr alter BMW war bereits ein seltenes Modell. Zu auffällig. Der alte Mann von nebenan war fast erblindet, er konnte nicht mehr fahren, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, den Wagen zu verkaufen, einen VW Golf mittleren Alters, der mit seinem silbernen Lack so etwas wie eine automobile Tarnkappe war. Ein Mann braucht doch ein Auto, hatte er der alten Hexe von unten erzählt, und Pawelkes Tante hatte gehöhnt: ein Mann schon, aber ein blinder Greis ganz gewiss nicht. Der Verlust des Autos würde also gar nicht auffallen, zunächst jedenfalls nicht, vielleicht sogar nie.

⇒ Folge 80 und Finale morgen bei motorfuture

 

 

KING. Projekt6 Band 1.

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