Ein Mercedes hält doch ewig

Eben hat der freundliche Gebrauchtwagenhändler von nebenan meinen alten Mercedes abgeholt.

Das Auto, ein Jahreswagen, hat mich achteinhalb Jahre begleitet. Gemeinsam sind wir ziemlich exakt viermal um die Welt gefahren, jedenfalls entfernungstechnisch. 170.000 Kilometer. Der TÜV hat uns geschieden. „Zweite Achse links Durchrostung.“ Gemeint ist die Hinterachse. Das ist kein Ruhmesblatt für einen zehn Jahre alten Mercedes. Andererseits hat der Wagen seinen Dienst getan: zuverlässig, sparsam, komfortabel. Ich gebe ihn mit Dankbarkeit weg. Er hat mich treu begleitet. Da, wo er jetzt hinkommt, wartet ein neues Mercedes-Leben auf ihn. Die Leute in Albanien lieben die Marke mit dem Stern. Eine Werkstatt wird die Hinterachse reparieren, das Öl wechseln und den Lack polieren, und ein neuer stolzer Besitzer wird den Wagen in Ehren halten. Das Auto hat noch ein langes Leben und eine lange Strecke vor sich.

Was mich betrifft bin ich immer wieder erstaunt, welche Schätze ein altes Auto birgt – im Kofferraum, im Handschufach, in den Ablagen, in mancher Ritze der Sitze.

Man übergibt so ein Auto ja gewissermaßen besenrein, und plötzlich entdeckt man in der Ablagentasche hinter dem Fahrersitz den Berliner Stadtplan, der seit mindestens fünf Jahren auf der Vermisstenliste steht. Die Brad-Pitt-Sonnebrille ist auch wieder da. Sie lag im Fach in der Mittelkonsole ganz unten, gleich neben der Automatikuhr, die ich vor langer Zeit verloren glaubte. Das Fach ist erstaunlich tief und verbarg neben der Sonnenbrille und der Armbanduhr eine Lesebrille, zwei Brillenetuis, sechs CDs ohne Hülle und etwa zehn Euro in Münzen. All‘ diese Dinge hatte ich irgendwann vermisst und dann schnell vergessen. Wir leben in einer Welt des Überflusses. Oben im Fach lagen die Kabel fürs Navigationsgerät, der Garagentoröffner und die Kaugummischachtel – alles Dinge, die man häufig braucht und die den Rest in der Tiefe des Raums vergessen machen. Ebenfalls in der Mittelkonsole fand ich zwei Feuerzeuge und eine Streichholzschachtel. Ich ärgerte mich ein bisschen, weil ich vor kurzem noch ein Feuerzeug gesucht, aber keines gefunden hatte.

Ähnlich ging es mir mit der Parkscheibe. Immer, wenn ich eine brauchte, war keine an Bord, dabei versteckte sich das Ding verschämt unter der Mappe mit der Bedienungsanleitung. Niemand benötigt eine Bedienungsanleitung in einem Auto, das man schon seit Jahren fährt. Schließlich kennt man seinen Wagen. Aus dem Kofferraum holte ich den Orientteppich, den ich vor Monaten geschenkt bekam, einen Schlafsack und drei gut gefüllte Behälter mit Glühlampen. Es gibt Leute, die kaufen bei Bedarf unverdrossen neue Glühlampen, ohne jemals auch nur einen Gedanken an die Reservebestände im Kofferraum zu verschwenden. Wir leben in einer Welt des Überflusses.

Gut finde ich, dass die CD-Box von Santana wieder aufgetaucht ist. Abraxas. Ich hatte das Ding wirklich schmerzlich vermisst. Es kauerte auf dem Rücksitz unter einem Stadionheft des VfB Stuttgart, über dem eine Regenjacke und zahlreiche Mützen lagerten. Sobald die Kinder aus dem Haus sind, mutiert der Rücksitz im Auto zur gut gepolsterten Ablagefläche.

Der Gebrauchtwagenhändler hat mir ein paar Geldscheine für den alten Mercedes gegeben. Ich will nicht klagen, er bot einen fairen Preis. Am Ende des Tages ist es eine Win-win-win-win-Stuation. Der Aufkäufer muss etwas verdienen, der Exporteur auch, der Händler in Albanien lebt ebenfalls nicht von der Hand in den Mund, und ich habe auch ein bisschen Geld bekommen. So gesehen hält mein alter Mercedes die Wirtschaft in Schwung. Abgesehen von den Kratzern an den Stoßstangen und den Flecken auf den Vordersitzen steht er da wie neu. Okay, die Hinterachse hat Rost angesetzt, kein Ruhmesblatt für Mercedes.

Ich habe einige Wochen überlegt, ob ich den Schaden selbst reparieren lasse. Aber wer steckt schon 2000 Euro in ein zehn Jahre altes Auto mit 170.000 Kilometern auf dem Tacho. Ein Fall für den Export, sagte der freundliche Gebrauchtwagenhändler von nebenan. Ich nickte. In Albanien hat das Auto noch viele gute Jahre vor sich. Die Albaner wissen, dass ein Mercedes ewig hält.

Hugo von Bitz