„Gibt es einen Weihnachtsmann?“

„Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann.“

Es gibt sie tatsächlich, die Geschichten aus dem richtigen Leben, die besser sind als jede Fiktion. Die Bestsellerbranche hat viel gelernt von diesen Geschichten. Hollywood sowieso. Aber ein Original ist ein Original, und Weihnachten ist die Zeit einer großen Erzählung.

Das motorfuture-Team wünscht allen Leserinnen und Lesern frohe Festtage mit einer Geschichte aus der guten alten Zeitungsbranche. Der Stoff ist bekannt, aber es schadet nicht, ihn immer wieder mal unter den Weihnachtsbaum zu legen.

Der Leserbrief

Eingesendet 1897 von der achtjährigen Virginia O’Hanlon an die Zeitung The Sun, New York:

„Lieber Chefredakteur: Ich bin 8 Jahre alt.
Einige meiner Freunde sagen, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.
Papa sagt: ‚Wenn es in der Sun steht, ist es so.‘
Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?“
Virginia O’Hanlon.
115 West Ninety-fifth Street
New York City
Die Antwort

Chefredakteur Francis P. Church, ehemaliger Frontberichterstatter im Amerikanischen Bürgerkrieg, antwortet auf der Kommentarseite der Sun: 

 „Virginia, deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen. Sie glauben, dass nicht sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unserem großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen.

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die diese Existenz erträglich machen. Wir hätten keine Freude. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht.

Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa veranlassen, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen.

Du kannst die Babyrassel auseinanderreißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger.

Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen.“

 

The Sun

New Yorker Zeitung. Gegründet 1833. Zunächst mit zweifelhaftem Ruhm. Eine sechsteilige Serie über angebliches Leben auf dem Mond schlägt 1835 Wellen bis nach Europa. Die abenteuerliche Lügengeschichte ist so gut gemacht, dass sie dem jungen Blatt Rekordauflagen einbringt. Ab 1919 Evening Sun. 1949 Pulitzer-Preis für Malcolm Johnsons Serie Crime on the Waterfornt. Ab 1950 nach Fusion New York World-Telegram and Sun. 1966 Verschmelzung mit dem New York World Journal Tribune. 1967 endgültiges Aus.

Virginia O’Hanlon

Die Verfasserin des wahrscheinlich berühmtesten Leserbriefs der Welt wurde schnell erwachsen und arbeitete fast 50 Jahre lang als Lehrerin und Rektorin in New York City und im Bundesstaat New York. Sie starb 1971 in einem Pflegeheim.

 

Foto: Pixabay

 

Redaktion