Redispatch und Lastabwurf

Bevor der Strom aus der Steckdose kommt, muss er produziert, eingespeist, überwacht und in einem Spannungskorridor geregelt werden. Klingt kompliziert, ist es auch. Zuständig ist der Staat. Auch beim Gas.

Der Netzbetreiber TransnetBW, einer der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber, hat seine Kunden im vergangenen Winter mehrfach konkret zum Abschalten von Stromverbrauchern aufgerufen. Wegen des starken Windes an der Küste beobachte man die Auswirkungen auf das Stromnetz im Süden ganz genau. Es bestehe ein Ungleichgewicht zwischen der hohen Erzeugung im Norden und den Verbraucherzentren im Süden.

Viel Wind, wenig Leistung

Viel Wind, wenig Leistung? Für den Verbraucher ist diese Gleichung zunächst ein Widerspruch. Die Bundesnetzagentur klärt auf: ‚Der schrittweise Ausstieg aus der Kernenergie und die vermehrte Einspeisung von Strom aus Erneuerbaren Energien wirken sich auf die Lastflüsse im Netz aus und zwängen zu Redispatch-Maßnahmen.“ Soll heißen: Kraftwerke werden angewiesen, ihre Leistung zu drosseln oder zu erhöhen. So wird beispielsweise Blindleistung aus dem Ausland zur Spannungshaltung in die Netze geleitet. Das kostet Geld.

Aber wer ist für die Stromversorgung eigentlich zuständig?

Daseinsvorsorge als Staatsaufgabe

Die Wirtschaftspolitik der EU beruht auf dem Grundsatz der Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Staatliche Eingriffe und Lenkungen sind zunehmend auf Überwachungsrechte beschränkt. Nur insoweit sind sie auch verfassungsrechtlich erlaubt. Beispiele für zulässige staatliche Eingriffe – auch nach der Liberalisierung der Energiemärkte Ende der 90er-Jahren – betreffen die Energiewirtschaft, die seit dem ersten Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) von 1935 dem Bereich der Daseinsvorsorge als Staatsaufgabe zugerechnet wird. Insbesondere bei der Stromversorgungssicherheit hat die EU dies durch eine Verordnung (VO) ausdrücklich festgelegt (EU VO 2019/941).

Möglichst sicher und preisgünstig

Beim Energierecht, das der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art 72, I, Grundgesetz (GG) zuzurechnen ist, hat der Bund nach Art 74, I, Ziff. 11, GG die Entscheidungsbefugnis, inwieweit er Regelungen treffen will. Er hat dieses Recht umfänglich, unter anderem mit dem EnWG, ausgeschöpft. Zweck dieses Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltfreundliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas.

Das EnWG in der Fassung vom 1.1.2023, im vergangenen Jahr wegen der Energiekrise mehrfach geändert, verpflichtet die Versorger (EVU), entsprechend tätig zu werden. Der Bund, vertreten durch den Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), führt darüber mithilfe der Bundesnetzagentur die Aufsicht. Er kann von den EVU jede Auskunft über technische und wirtschaftliche Verhältnisse verlangen.

Die Unternehmen haben jede Erweiterung oder Stilllegung anzuzeigen, müssen ihre Tarife bekanntgeben und jeden Verbraucher an das Versorgungsnetz anschließen. Netzbetreiber müssen ihr Versorgungsnetz für Durchleitung entgeltlich zur Verfügung stellen.

Durch die Regulierung der Versorgungsnetze soll ein wirksamer und unverfälschter Wettbewerb und ein zuverlässiger Betrieb der Versorgungsnetze gewährleistet werden (§ 1 EnWG).

Gefährdung des lebenswichtigen Bedarfs

Schon das Energiesicherungsgesetz von 1974 räumte der Bundesregierung nach der Ölkrise das Recht zur Rationierung von Erdöl, Benzin, elektrischer und sonstiger Energie bei Gefährdung des lebenswichtigen Bedarfs ein. In der Neufassung von 2022 ist auch von den Möglichkeiten der umfassenden Enteignung, zum Beispiel von Gasspeicheranlagen, die Rede. Unternehmen der kritischen Infrastruktur können unter Treuhandverwaltung gestellt werden. BMWK und Bundesnetzagentur können bei verminderten Gasimporten ein Preisanpassungsmonitoring durchführen. Sie können bei Energieknappheit sogar Regelungen über einen reduzierten Verbrauch treffen.

Heute stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten und Kompetenzen der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz im Hinblick auf die Versorgungssicherheit der Bevölkerung und der Industrie hat.

Der Staat muss es letztendlich richten

In Veröffentlichungen des Ministeriums heißt es zur Frage, wer die Verantwortung für die Versorgung trägt: „Der Strommarkt muss fortwährend die ununterbrochene Versorgung der Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland mit Strom garantieren.“ Das würde bedeuten, dass der Staat die Verantwortung an den Markt zurückgibt. Da er jedoch zur Daseinsvorsorge verpflichtet ist, also die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicherstellen muss (Art. 28, II, GG, Art 86 II EGV-EU), mussten im letzten Jahr Maßnahmen zur Beschaffung von Energie getroffen werden. Der Staat muss es letztendlich richten.

Die Aktivitäten des Bundeswirtschaftsministers zur Gasbeschaffung in vielen Lieferländern, die Förderung von LNG-Terminals oder die Reaktivierung alter Kohlemeiler sind Ausdruck dieser Verpflichtung. Die Energieträger (Gas und Strom) müssen konkret zur Verfügung stehen. Es ist vor diesem Hintergrund erstaunlich, dass die sogenannte Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP Mitte April 2023 die letzten drei in Deutschland noch laufenden Kernkraftwerke vom Netz genommen hat.

Daseinsvorsorge ist nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts eine Leistung, auf die der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz definitiv Anspruch hat. Die Bundesregierung ist deshalb auch für die Bezahlbarkeit der Energie zuständig. So werden seit dem 1. Januar 2023 gedeckelte Höchstpreise für Strom, Gas und Wärme garantiert – für viel Steuergeld.

1,8 Millionen Kilometer Stromnetz

Mit der Liberalisierung des Strommarktes wurden Energieerzeuger und -lieferanten sowie Netzbetreiber voneinander getrennt. Nach § 13 EnWG ist der Übertragungsnetzbetreiber berechtigt und verpflichtet, netz- und marktbezogene Maßnahmen durchzuführen, um die Gefährdung oder Störung der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems in seiner Regelzone zu beseitigen. Einspeiser, wie beispielsweise Windkraftwerke, müssen sich einem Netzsicherheitsmanagement des Netzbetreibers anpassen, um Überlastungen der Netze und Stromausfall durch ungeregelte Stromeinspeisung zu vermeiden. 

In Deutschland umfasst das Stromnetzt circa 1,8 Millionen Leitungskilometer. Davon entfallen knapp 37.000 Kilometer auf die Höchstspannungsnetze (220-400 kV) der vier Betreiber 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW. Sie sind Partner der industriellen Abnehmer und der großen Kraftwerke. Hoch-, Mittel- und Niederspannungsleitungen (Ortsnetze) leiten Strom zu den Stadtwerken und in die Ortsnetze.

Risikovorsorge, Zuständigkeit, Bundesnetzagentur

Die EU kümmert sich seit Längerem um das Thema Energiesicherheit. Interessanterweise wurde 2019, also vor der Krise, eine Verordnung erlassen, die die Länder in der EU verpflichtet, Risikovorsorgepläne zu erstellen, um die Stromversorgungssicherheit zu gewährleisten (EU VO 1919/941). Dies hat der Bund getan und entsprechend Art. 10 EU VO einen Risikovorsorgeplan erlassen und die Bundesnetzagentur (BNetzA), eine selbständige Bundesoberbehörde, zum zuständigen Akteur bestimmt. Sie verwaltet und regelt die operativen Aufgaben beim Angriff auf oder dem Ausfall von kritischer Infrastruktur sowie der Knappheit der Energieträger Kohle und Erdgas.

Die Bundesnetzagentur bezeichnet einen umfassenden Netzausfall beim Strom als unwahrscheinlich. Das elektrische Energieversorgungssystem ist mehrfach redundant ausgelegt und verfügt über zahlreiche Sicherungsmechanismen, unter anderem durch den europäischen Netzverbund. Hier gilt der Grundsatz: Der Strommarkt muss die Versorgung in Deutschland garantieren. Dies meint vor allem die Betreiber der Elektrizitätsverteilnetze (§§11, 14 EnWG).

Redispatch und Lastabwurf

Die Verteilnetze haben gemeinsame Netz- und Systemregeln aufgestellt, wie sie bei stark fluktuierender Einspeisung von Strom die Stabilität des Netzes garantieren. Zu den Maßnahmen gehören Redispatch und Lastabwurf (Abschalten eines Stromverbrauchers bei Engpässen zur Laststeuerung im Netz bei Unterfrequenz, Unterspannung oder thermischer Überlastung). Der Lastabwurf ist die letzte Möglichkeit, einem Zusammenbruch des Netzes zuvorzukommen. In Entwicklungsländern und bei Naturkatastrophen kommen Lastabwürfe häufiger vor. In Deutschland waren es in der Vergangenheit wenige Minuten im Jahr. Einige Großverbraucher, hauptsächlich Zementmühlen und große Kühlhäuser, haben Verträge als Lastabwurfkunden. Sie zahlen weniger für den Strom, müssen dafür auf Anforderung des Energieunternehmens automatisch und quasi im Sekundenbereich abschalten.

Im Störfall können in privaten Haushalten und in der gewerblichen Produktion erhebliche Schäden auftreten. Nach dem EnWG tragen die Energieversorger die Verantwortung für die Lieferung von Strom. Gelingt das nicht, haften sie im Falle von Fahrlässigkeit für mögliche Schäden. Die Kunden müssen nachweisen, dass ihr Schaden auf den Stromausfall zurückzuführen ist. Im Falle des Abschaltens von Kraftwerken liegt in der Regel hoheitliches Handeln vor. Dann haftet der Staat.

Bei beschädigten Stromleitungen haftet der Netzbetreiber privaten Stromkunden gegenüber nach der Rechtsprechung des BGH unabhängig vom Verschulden nach dem Produkthaftungsgesetz. Unternehmen erhalten nur Schadensersatz, wenn der Netzbetreiber selbst für Stromschwankungen verantwortlich ist. Bei Vermögensschäden muss grob fahrlässiges Verhalten nachgewiesen werden

Keine Priorisierung beim Strom

Im Gegensatz zum Gasbereich gibt es beim Strom keine „geschützten Kunden“ oder eine anderweitige Priorisierung. Sollte die Bundesregierung einen Notstandsfall nach dem Energiesicherungsgesetz (EnSiG) feststellen, müsste die Bundesnetzagentur als Lastverteiler tätig werden und Abwägungsentscheidungen zugunsten des lebensnotwendigen Bedarfs treffen.

Notfallplan Gas

Der Notfallplan Gas regelt die Versorgung in einer Krisensituation (EU VO 2017/1938) mit drei Krisenstufen (Frühwarn-, Alarm-, Notfallstufe), die von der Bundesregierung festgestellt werden. Erst bei der dritten Stufe greift der Staat ein. Dies ist der Fall, wenn marktbasierte Maßnahmen nicht ausreichen. Der Staat greift dann ein, um die Gasversorgung sicherzustellen, die Bundesnetzagentur wird Bundeslastverteiler.

Bestimmte Gruppen sind hinsichtlich der Gaslieferung gesetzlich geschützt: soziale Einrichtungen und private Haushalte sowie Anlagen, die der Wärmeversorgung dienen. Es existiert aber keine abstrakte Abschalt-Reihenfolge für den Fall der Gasmangellage. Die Bundesnetzagentur stimmt die Zu- und Verteilung im Notfall mit den Energieversorgern und den Netzbetreibern ab.

Beitrag im Juli 2023 überarbeitet.

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

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Dietrich Austermann