Die Zukunft beginnt immer in der nächsten Sekunde. Sie lässt sich aber ein Stück weit konservieren, wenn die Form stimmt und die Idee. Beim Mercedes 190 ist das der Fall.
Als der Daimler Ende 1982 den Mercedes 190 präsentiert, nörgelt die Fachwelt. Zu klein, das verwässert den Markenkern. Im Design zu avantgardistisch, das beschädigt die Seriosität. Doch die potenzielle Kundschaft sieht es anders, das richtige Leben und der Markt lachen über die Kritik. Das neue Mercedes-Format startet einen triumphalen Siegeszug. Modern, kompakt, Mercedes-Qualität. Und Mercedes-Preise. Der Neue ist teuer, sehr teuer sogar. Der tiefe Griff in die Brieftaschen der Kunden sorgt für das Premiumprestige, das vielen Anhängern der Marke bis heute wichtig ist. Auch einen 190er muss man sich erst einmal leisten können. Das Auto kostet in der Basisausstattung 25.764 D-Mark, für die Servolenkung berechnet Mercedes 826,50 D-Mark extra. Dafür gäbe es auch drei Citroen 2CV 6, aber mal im Ernst, was will man mit drei Enten?
Der Impuls für den Wagen 201 – das ist die interne Projekt- und Baureihenbezeichnung – ist die US-Gesetzgebung für saubere Luft. Der Clean Air Act bestimmt den Flottenverbrauch der in den USA angebotenen Modelle jedes Herstellers – quer durch die Fahrzeugpalette. Zielmarke für das Jahr 1985: 27,5 Meilen pro Gallone, das entspricht 8,5 Liter auf 100 Kilometer.
Gut Ding will Weile haben
Für die Marke Mercedes-Benz ist das ein enorme Herausforderung auf ihrem wichtigsten Exportmarkt. Die Idee für eine kompakte und damit verbrauchsgünstige Modellreihe ist die logische Konsequenz. Im Januar 1974, also vor bald 52 Jahren, definiert Entwicklungschef Hans Scherenberg die Eckpunkte des Projekts: „Klar ist hierbei doch, dass es sich um einen typischen Mercedes-Benz handeln muss. Wir können also an der Fahrkultur, der Sicherheit und entsprechenden spezifischen Mercedes-Benz Eigenschaften nicht zu viele Abstriche machen.“ Am 4. Februar 1974 präzisiert Prof. Scherenberg im Lastenheft: „Mit diesem Produkt ist nicht daran gedacht, in die Märkte der Mittelklasse einzudringen, die beispielweise von Opel und Ford seit Jahren behauptet werden. Vielmehr soll sich der Typ 201 von jenen aufgrund der unter dem Markensymbol vom Kunden erwarteten Eigenschaften bezüglich Qualität, Sicherheit und Fahrkultur bewusst absetzen.“ Damit, schreibt die Firmenchronik, „ist ein Auftrag umrissen, der fast der Quadratur des Kreises nahekommt“. Und das braucht seine Zeit. Zwischen Start und Ziel vergehen knapp neun Entwicklungsjahre.
cw-Wert 0,33, Raumlenker an den Hinterrädern
Als das Auto im November 1982 vorgestellt wird, staunt das Publikum. Designchef Bruno Sacco hat einen Mercedes gezeichnet, der wie ein Keil auf der Straße steht. cw-Wert 0,33, das ist vor gut 40 Jahren ein echtes Statement.

Kritiker und Mercedes-Traditionalisten sind ein wenig ratlos, denn der Wagen 201 sticht nicht nur schneidig durch den Fahrtwind, sondern ist auch ein dynamischer Fingerzeig in die Markenzukunft. Wagen 124, die neue E-Klasse, wird den Kurs 1984 eindrucksvoll bestätigen. Das hätte man Mercedes gar nicht zugetraut. Obwohl: Wagen 126, die aktuelle S-Klasse, hat den Weg schon 1979 vorgezeichnet, nur größer halt und wuchtiger. Auch der W 126 ist eine Arbeit Bruno Saccos. Es sind Visionäre wie der Mann aus Udine, die Zukunft mit Zeitlosigkeit kombinieren.
Der W 201 setzt auch mit der Raumlenker-Hinterachse Maßstäbe. Dynamik, bis dato nicht gerade eine Kernkompetenz der Marke, ist plötzlich ein Mercedes-Thema. Der Mercedes 190, schreibt auto motor und sport in einem frühen Test, ist „der kurvenfreudigste Mercedes-Benz überhaupt, mit einem weitgehend neutralen Eigenlenkverhalten (…) und eben viel Fahrvergnügen bietend.“

Kohl, Kalter Krieg, Reagan, Andropow
Der 190er fährt übrigens in eine Zeit der weltpolitisch klaren Verhältnisse. Der Status quo heißt Kalter Krieg, der Eiserne Vorhang scheint für die Ewigkeit errichtet. Der Osten stationiert Kurz- und Mittelstreckenraketen, der Westen reagiert mit dem NATO-Doppelbeschluss. Der Kalte Krieg klirrt tiefgefroren. Menschen fassen sich an den Händen, singen fromme Lieder und halten Kerzen in die Höhe. Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegte gründen die Partei der Grünen. Helmut Kohl, ein Pragmatiker aus der Pfalz, wird im Herbst 1982 Bundeskanzler. In den USA regiert seit knapp zwei Jahren der Hollywood-Schauspieler Ronald Reagan. Ex-KGB-Chef Jurij Wladimirowitsch Andropow übernimmt im November 1982 die Macht in der Sowjetunion. Bundesrepublik und DDR feiern – Schnapszahl! – den jeweils 33. Geburtstag, die Mauer teilt Berlin seit 21 Jahren. Und es soll noch ein gutes Jahr dauern, ehe sich Udo Lindenberg im Palast der Republik von den Blauhemden der FDJ und deren Chef Egon Krenz veralbern lässt.
Die Automobilindustrie macht bereits viel Wind im Windkanal, aber sie fürchtet den Abgaskatalysator wie der Teufel das Weihwasser. Es geht um Blei im Benzin und die Haltbarkeit der Motoren, und die Luft in den Städten ist zum Schneiden. Der kleine Mercedes kommt ohne Katalysator auf den Markt, aber er ist leicht (1080 Kilogramm in der Basisversion) und schlüpft gut durch den Wind, siehe oben. So war das damals.
Gesamtauflage knapp 1,9 Millionen Exemplare
Mit dem Wagen 201 (Benziner und Diesel, Vier- und Sechszylinder, 72 – 234 PS) begründet Mercedes die spätere C-Klasse. Der 190er läuft bis August 1993 in einer Gesamtauflage von 1.879.630 Fahrzeugen in den Werken Bremen und Sindelfingen vom Band.

Fotos: Mercedes-Benz
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