edition motorfuture: KING > Folge 52

Seit diesem Tag waren sie Freunde, und ihre Freundschaft hatte die respektvolle Ernsthaftigkeit jener Freundschaften, die manchmal zwischen Vater und Sohn wachsen, und die unzerstörbar bleiben, die auch dann unzerstörbar bleiben, wenn der Ältere weiß, dass ihm der Jüngere über den Kopf gewachsen ist, denn das ist der Lauf der Dinge. Willi Teufel hatte keinen Sohn. Peter Pan hatte keinen Vater. Jetzt hatten sie ihre Freundschaft.

„Das ist guter Stoff“, sagte Peter Pan und begutachtete das Mädchen in der Schwarzwaldtracht auf dem Etikett.

„Wenn du ein Problem hast, kannst du mir davon erzählen“, sagte Willi Teufel sachlich.

„Es gibt tatsächlich ein Problem.“ Der junge Mann lächelte schüchtern.

„Das Leben ist eine einzige Aneinanderreihung von Problemen“, sagte der Detektiv. „Wenn es dir gelingt, deine Probleme zu lösen, eines nach dem anderen, hast du ein gutes Leben.“

„Es gibt kleinere Probleme und es gibt größere Probleme.“

Teufel nickte. Er nahm seine Flasche und warf jetzt ebenfalls einen Blick auf das Schwarzwaldmädchen. Die Flasche war kühl und feucht. Er nahm einen Schluck. Er sagte: „Das Mädchen heißt Birgit Kraft.“

„Wer?“ Der Junge schaute ihn an.

„Das Mädchen auf dem Etikett… Es heißt Birgit Kraft.“

„Tatsächlich?“ Peter Pan nahm seine Flasche und betrachtete die holzschnittartige Illustration – ein semmelblondes Schwarzwaldmädel mit bierschaumweißen Zähnen und apfelroten Wangen. Birgit Krafts optimistisches Lächeln hatte eine ansteckende Wirkung und machte Durst.

„Birgit Kraft“, wiederholte der Detektiv. „Es ist eine Ableitung von Bier gibt Kraft.“

„Tatsächlich?“

Die Pointe fiel wie ein kraftloser Blindgänger auf die Dielenbretter der kleinen Bootshausstube.

„Dieses Bier schmeckt jedenfalls sehr gut“, lobte der Junge. „Und es ist schön kalt.“

Willi nickte wieder. Ja, das Bier war schön kalt. Und das Bootshaus, dieses im Schilf der Havel vergessene Nazi-Spielzeug, war mit seiner letzten Besitzerin, der Nazi-Erbin, jetzt doch ziemlich alt geworden, wenn auch nicht alt genug für seine ganz persönlichen Zwecke und Bedürfnisse. Bald würde ein kleiner Bagger anrollen, und zwei oder drei Bauarbeiter würden die Überreste der Holzhütte samt Bootsgarage in wenigen Stunden auf einen Anhänger verladen, und das Naturschutzgebiet wäre dann endlich wieder Naturschutzgebiet, vom Menschen geschützte natürliche Natur, ohne menschliche Ausdünstungen und Ausscheidungen und ohne einen menschlichen Laut. Was für ein Triumph am Rande der Großstadt mit ihrem Dreck und ihrem Gestank und ihrem Lärm. Und was für ein Triumph des Rechts: Naturschutz schlägt Dach über dem Kopf. Wir reißen die Hütte ab und schenken dir dafür einen Hund. Das Leben war ein einziger Witz. Teufel schüttelte leise den Kopf und sah hinüber zu dem riesigen Jungen in dem kleinen Sesselchen. Hellgrüner Bezug, schwarze Armlehnen. Er hatte das gute Stück irgendwann drüben in Dahlem aus dem Sperrmüll gezogen. Es mochte aus den dreißiger Jahren stammen und passte, klein und fein, wie es war, gut zur pastelligen Bootshausidylle aus derselben Zeit. Diese Nazitypen, einfach unglaublich. Hatten eben mal begonnen, die ganze Welt anzuzünden, und nebenbei hatten sie noch Zeit für ihr kleines Glück gefunden. Hübschgrüne Sesselchen fürs traute Heim im Grunewald. Bootshäuser im Naturschutzgebiet. Schauspielerinnen aus Prag für kleine Männer mit Gehbeschwerden. Probleme – gab es nicht mehr. Es gab diese fluoreszierende Lichtgestalt, Gottvater und Luzifer in Personalunion. Es gab den Olymp der Halbgötter, die Metaebene zwischen Volk und Führer. Es gab das Reich des reinen Blutes und der Ehre, die gewaltigen Aufmärsche der Massen, die Fahnenmeere. Choreografierte Felder der menschlichen Selbstaufgabe. Die Massenmörder von morgen kauften grüne Sesselchen im Einrichtungshaus Maienschein, ehe man den Maienscheins erst den Möbelladen wegnahm, dann die Ehre, dann den Pass und dann das Leben. Ja, das Inferno ließ noch ein wenig auf sich warten. Aber in der Hölle schürten Tausende Teufel schon die Glut.

Willi flirtete ein weiteres Mal mit Birgit Kraft. Ein kräftiger Schluck aus der handlichen Flasche.

„Du glaubst, kein Problem kann groß genug sein, um es nicht lösen zu können.“ Der Junge sah ihn an.

„Das glaube ich nicht, das weiß ich“, sagte Willi. Er klang pathetisch und großspurig, und es war gelogen, aber der Junge merkte es nicht.

„Manchmal steht ein Problem wie ein riesiger Berg vor dir.“

„Viele Berge kann man einfach besteigen. Andere sollte man besser umgehen.“

„Dieses Problem ist kein Berg, es ist ein stinkender Misthaufen.“

„Was weiß ein Großstadtjunge wie du von stinkenden Misthaufen?“

„Nichts“, sagte Peter Pan. Er lächelte unsicher. „Ömer hat davon gesprochen.“

„Ömer ist euer Boss.“

Peter Pan nickte.

„Und der Misthaufen?“

„Ist ein Lackaffe.“

⇒ Folge 53 morgen bei motorfuture

 

 

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