edition motorfuture: KING > Folge 26

Er sagte: „Ich fürchte fast, wir sind verpfiffen worden.“

„Der Fußball ist nicht gerecht. Er ist wie das richtige Leben.“

„Wer sagt das?“

„Du sagst das. Du sagst außerdem, dass es genau das ist, was das Spiel so faszinierend macht.“

Jürgen Toth nickte. Die Sirenen waren Richtung Osten gefahren. Sie wurden jetzt schnell leiser. Es kamen keine neuen hinterher. Glück gehabt, vielleicht…

„Das Problem ist… Im Grund genommen haben wir es hier sogar mit zwei Problemen zu tun.“

Apollonia Toth schwieg. Sie wusste, wann er eine Antwort erwartete und wann nicht. Sie sah hinunter auf die Stadt. Sie sah hinüber nach Westen. In diesen Minuten konnte man es am besten sehen: Der rotglühende Ball war der Erde ganz nah. Die Luft war noch sehr warm, und ein leiser Windhauch fächelte den Rosenduft.

„Das Problem ist diesmal, dass wir ganz offensichtlich tatsächlich benachteiligt wurden… Zwei groteske Fehlentscheidungen…“

Apollonia nickte.

„Ein Platzverweis, der nie und nimmer eine rote Karte war. Ein Allerweltsfoul… Ich hätte nicht mal gelb dafür gegeben. Und der Elfer in der vorletzten Minute… Okay, ich bin nicht daneben gestanden. Aber ich würde einen ordentlichen Betrag setzen, dass das nicht mehr war als eine billige, lächerliche Schwalbe.“

Apollonia nickte. Vermutlich waren die Spurs tatsächlich benachteiligt worden. Es war ungewöhnlich, dass Jürgen überhaupt über das Spiel sprach.

Sie sagte: „Vielleicht konnte euch der Schiedsrichter einfach nicht leiden, deine Spurs und die ganze aufgeblasene obere Mittelschicht, die dort oben auf der Tribüne zu einer Bande ordinärer Gassenjungen mutiert.“

Sie suchte seine Augen, und er erwiderte ihren Blick.

Er hatte sie einmal mitgenommen zu einem Spiel, das war lange her, und sie hatte das Stadion lange vor Spielende verlassen und war alleine durch den Wald hinunter nach Hause marschiert. Nie wieder, hatte sie damals gesagt. Die Leute geraten ja völlig außer sich… Wegen eines Spiels um einen Ball… Ich möchte mir diese zu Fratzen verzerrten Gesichter nicht anschauen, und ich möchte auch nicht akzeptieren, dass das Stadion hinsichtlich des guten alten 185 StGB ein rechtsfreier Raum ist.

Sie hatten nie mehr darüber geredet.

Aber als sich der Termin der nächsten Ballettpremiere näherte – das mit Millionenbeträgen hoch subventionierte Staatstheater stattete den Chefredakteur ganz selbstverständlich stets mit zwei Freikarten der ersten Kategorie aus –, hatte Jürgen völlig humorlos die Retourkutsche bestiegen. Ich gehe da nicht mehr hin, hatte er gesagt. Nie wieder. Die Leute geraten ja völlig außer sich… Wegen ein paar Tänzern, die sich zum Affen machen… Und ich möchte mir die blasierten Gesichter der so genannten feinen Gesellschaft nicht mehr anschauen. Hochkultur-Schmarotzer, die sich für etwas Besseres halten. Einfach widerlich. Lassen sich ihr elitäres Vergnügen von den kleinen Leuten finanzieren…

Auch darüber hatten sie nie mehr geredet.

Er sagte: „Gut möglich, dass du recht hast. So wie die junge Frau bepöbelt und beschimpft wurde. Heute habe ich mich mal wieder richtig geschämt.“

„Die junge Frau?“

„Die Schiedsrichterin.“

„Wie bitte?“

„Ja, du hast richtig gehört.“

„Findest du das gut?“

„Beruflich oder privat?“

„Hab‘ ich mir fast gedacht.“

Apollonia Toth lächelte.

Die Abendsonne war jetzt hinterm Horizont verschwunden, und die Cirrus castellanus weit im Westen standen in Flammen.

Sie sagte: „Es ist ja wirklich faszinierend, dass aus diesem todlangweiligen Spiel ein Massenphänomen werden konnte. Trotz dieser Fehlkonstruktion…“

„Der Schiedsrichter ist keine Fehlkonstruktion“, sagte Jürgen.

Apollonia begutachtete den Himmelsbrand. Die Erde war keine Scheibe. Die Menschheit hatte das akzeptiert, und sogar die prächtig gewandeten Würdenträger der allmächtigen Kirche hatten mürrisch eingeräumt, dass unter dem Strich auch eine Kugel eine göttlich runde Sache sei.

„Die Erfolgsgeschichte des Fußballs ist Ergebnis seiner verblüffenden Einfachheit“, dozierte Jürgen. „Das Spiel lässt sich praktisch überall spielen. So gut wie jeder kann mitkicken. Und die Regeln sind einfach, verständlich und kulturell überall auf der Welt reproduzierbar.“

„Wenn die Regeln so einfach sind, warum pfeifen dann die Schiedsrichter so falsch?“ Apollonias Spitzzüngigkeit war gar kein Sarkasmus. Sie war bloß Berlinerin.

„Ja, ja, die Schiedsrichter…“ Jürgen lächelte. „Auch ihre Rolle im Spiel ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg des Spiels.“ Er sah hinüber nach Westen. Der Horizont war jetzt plötzlich ein heller Himmel auf einem schwarzen Fundament, und die Wolken waren dunkelviolette Streifen. „Die Schiedsrichter – mutige Gestalten auf dem schmalen Grat zwischen Scharfrichter und Witzfigur.“

„Du meinst, die Schiedsrichter sind für die Emotionen zuständig…“

„Nicht nur, aber auch. Und nicht zuletzt.“

„Und du meinst, die meisten von ihnen machen ihren Job nicht gut?“

 

⇒ Folge 27 morgen bei motorfuture

 

 

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