Der Luftwiderstand wächst mit dem Quadrat der Geschwindigkeit

Informationen aus dem Windkanal: Im Entwicklungszentrum in Sindelfingen unterhalten sich der Mercedes-Chef-Aerodynamiker Teddy Woll und Ironman Jan Frodeno über Tücken und Chancen des Mediums Luft.

Menschen aus seinem Umfeld beschreiben Ironman Jan Frodeno (37) als Perfektionisten, der jeden noch so kleinen technischen Vorteil sucht, wenn er einen Zeitgewinn verspricht. In der komplexen Triathlon-Welt – 3,86 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, 42,2 Kilometer Laufen – ist vor allem das Wettkampf-Drittel auf dem Fahrrad von optimaler Technik abhängig – Stichwort Aerodynamik.

Den Luftwiderstand zu brechen, hat sich auch Teddy Woll (56) zur zentralen Aufgabe gemacht. Der Leiter der Aerodynamik bei Mercedes-Benz arbeitet mit seinem Team an der Effizienz der Mobilität.

Ironman und Entwickler diskutierten das Thema im Mercedes-Benz-Windkanal in Sindelfingen.

Jan Frodeno (links), Teddy Woll                                Fotos: Daimler


Über die Bedeutung der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Aerodynamik spielt im zentralen Teil eines Langstrecken-Triathlon, den 180 Kilometer Radfahren, eine ganz wesentliche Rolle. Besonders bei der Weltmeisterschaft auf Hawaii haben wir nicht nur mit dem Luftwiderstand an sich zu kämpfen, sondern auch mit starken böigen Winden. Das macht das Thema besonders komplex. Und man muss wissen: Nicht die Aerodynamik des Rades ist entscheidend, vielmehr das Zusammenspiel von Rad und Fahrer. Denn der Körper verursacht etwa 80 Prozent der Angriffsfläche für den Wind. Die perfekte Sitzposition zu finden, ist schon einige Stunden im Windkanal wert.
  • Teddy Woll: Aerodynamik ist ein intelligenter Weg, den Flottenverbrauch zu senken, und hilft auch, die Schere zwischen zertifiziertem und Realverbrauch zu schließen. Da der Luftwiderstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst, bringt eine cw-Wert-Reduktion vor allem bei höherem Tempo Vorteile. Eine strömungsgünstige Gestaltung ist auch deshalb so wichtig, weil die Stirnfläche der Fahrzeuge in der Tendenz eher noch wächst: Die Menschen werden größer, die Batterie von Elektrofahrzeugen braucht Platz und viele Kunden bevorzugen ein SUV. Umso stolzer sind wir, dass wir es bei den neuen Kompaktwagen trotz breiterer Räder und größerem Platzangebot erstmals geschafft haben, nicht nur nochmal den cw-Wert zu senken, sondern auch die Stirnfläche zu verkleinern.
Über die Größenordnungen der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Wer gemütlich auf einem Tourenrad unterwegs ist, hat einen Luftwiderstandswert von etwa 0,7 m². Ein Mountainbiker bewegt sich im Bereich von etwa 0,6 m², ein Rennradfahrer unter 0,5 m². Bei mir wurde – in Kombination mit Helm, ausgetüftelter Sitzposition und aerodynamisch optimiertem Rad – ein Luftwiderstand von 0,21 m² gemessen. Der Hollandradfahrer muss also den dreifachen Widerstand überwinden, und bei doppelter Geschwindigkeit schon den neunfachen!
  • Teddy Woll: Unser derzeit Bester ist die A-Klasse Limousine. Sie erreicht mit einem cw-Wert von 0,22 den aktuellen Weltrekord bei Serienfahrzeugen und besitzt eine Stirnfläche von rund 2,19 m². Das ergibt einen Luftwiderstandswert von 0,49 m². Zwei Personen in einer A-Klasse sind damit deutlich windschnittiger unterwegs als zwei Rennradfahrer – trotz dreifacher Stirnfläche.
Über die Effekte der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Da sich die äußeren Umstände permanent ändern, ist eine Quantifizierung in absoluten Werten unheimlich schwierig. Aber klar ist: Je weniger Energie ich brauche, desto schneller kann ich fahren – oder ich kann Kraft sparen für den abschließenden Marathonlauf. Wir Radsportler messen die Aerodynamik daher in Watt – die Kraft, die wir aufbringen müssen, um den Luftwiderstand zu überwinden – oder eben, wieviel Watt wir einsparen können bei einer angestrebten Geschwindigkeit von beispielsweise 45 km/h.
  • Teddy Woll: Gelingt es, den cw-Wert um ein Hundertstel zu senken, also beispielsweise von 0,24 auf 0,23, sinkt der Kraftstoffverbrauch im Kundenmittel um ein zehntel Liter, bei Autobahntempo 140 km/h um ca. 0,2 Liter je 100 Kilometer oder 5 Gramm CO2 pro Kilometer. Es gibt heute keine Maßnahme, die so viel Verbrauch reduziert zu so niedrigen Kosten. Um diesen Spareffekt im realen Verkehr durch Leichtbaumaßnahmen zu erzielen, müsste man die Autos um mindestens 50 Kilogramm abspecken, bei Autobahntempo 140 sogar um rund 200 Kilogramm.
Über das Entwicklungspotential der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Wir haben in den letzten Jahren vor allem mit meinem Radpartner Canyon viel an dem Rad an sich gearbeitet und haben den Lenker und das Cockpit verbessert. Zusätzlich haben wir auch an meiner Sitzposition getüftelt und einen neuen Helm entwickelt. Das hat alles Erfolge gebracht. Man muss aber auch immer die Biomechanik im Auge behalten. Denn man muss auch noch die Kraft aufs Pedal bringen können und vor allem bei einem Ironman die Sitzposition über 4 Stunden halten können. Es bringt nichts, wenn man im Windkanal 10 Watt an Windwiderstand einspart, dann aber die Position so „unkomfortabel“ ist, dass man 20 Watt weniger Leistung aufbringt oder danach nicht mehr richtig laufen kann. Diese Balance und den perfekten Punkt zwischen Aerodynamik und Biomechanik zu finden, ist bei uns die größte Herausforderung.
  • Teddy Woll: Zielkonflikte mit unterschiedlichen Anforderungen haben wir auch beim Auto – deswegen ist nicht immer jedes Modell strömungsgünstiger als sein Vorgänger. Aber generell haben wir in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Ein spektakuläres Beispiel ist der Sprung bei den SUVs, von der ersten M-Klasse mit cw0,40 bis zum neuen GLE, der mit 0,29 einen neuen cw-Bestwert im Segment erreicht. Die Limousinen haben in diesem Zeitraum rund 20 Prozent Verbesserung zu verzeichnen. Große Fortschritte haben wir in den letzten Jahren durch die Digitalisierung des Entwicklungsprozesses gemacht, die Berechnung konnte massiv beschleunigt und stark verbessert werden. Digitale Fahrzeugmodelle haben heute über 100 Millionen Zellen und liefern uns schon über Nacht Resultate mit Genauigkeiten über 99 Prozent. Dieselbe Simulation hätte vor nicht allzu langer Zeit ein halbes Jahr gedauert und wäre noch sehr ungenau gewesen. Hinzu kommt, dass wir heute sehr gut mit den Kollegen aus dem Design zusammenarbeiten und ein hervorragendes Verständnis füreinander entwickelt haben. Und es macht uns schon stolz, dass wir auf diesem Gebiet den Trend für die ganze Autoindustrie setzen.
Über die aktuelle Arbeit an der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Schauen Sie sich mein aktuelles Rennrad an. Meine Partner von Canyon haben sich wirklich um jedes Detail gekümmert. Zum Beispiel besitzt mein Speedmax CF SLX ein maßgefertigtes Cockpit: Um die Stirnfläche möglichst klein zu halten, fräste Canyon einen speziellen Aufsatz, der mittig auf dem Vorbau sitzt. Und Continental hat für mich einen speziellen Reifen gefertigt, mit dem geringen Rollwiderstand des GrandPrix TT und dem verringerten Luftwiderstand des GrandPrix 4000 S2: Durch das Profil in der Lauffläche löst sich der Wind schneller ab, was gegenüber der glatten Lauffläche des TT ein bis zwei Watt Ersparnis bringt.
  • Teddy Woll: Das sind drei Bereiche – die Durchströmung des Motorraums, die Um- und Durchströmung der vorderen Räder und Radhäuser sowie der Unterboden. Diese Maßnahmen umfassen beispielsweise die neueste Generation von aktiven Kühlerjalousien, ein komplexes Zusammenspiel von 3D-Radspoilern, geschlitzten Radlaufschalen und Aero-Rädern, vollständig verkleidete Unterböden und bei einigen Fahrzeugen auch die aktive Niveauregulierung. Aber wir schauen uns jede Ecke am Fahrzeug genau an: von der Bugschürze mit all ihren Kanten und Öffnungen bis hin zu den kleinen Abrisskanten im Deckglas der Rückleuchten, um den Strömungsabriss am Heck zu perfektionieren.
Über die Zukunft der Aerodynamik
  • Jan Frodeno: Die Entwicklung geht immer weiter, solange Verrückte wie ich so akribisch hinter jedem Detail her sind. Wer gewinnen will, muss besser als die anderen sein. Und das bedeutet: Wer still steht, fällt zurück. Wir müssen permanent lernen, messen, verstehen, entwickeln – und wieder von vorn.
  • Teddy Woll: Genau das ist auch unsere Einstellung. Unser Firmenmotto „Das Beste oder Nichts“ bringt das auf den gleichen Punkt. Natürlich kommen wir langsam an eine asymptotische Grenze heran, wenn wir die Autos nicht dramatisch in ihrem Aussehen verändern, also zum Beispiel deutlich länger und glatter machen und mit schmalen Hecks und schmalen Rädern ausstatten wollen. Zum Glück finden wir aber – sowohl im Windkanal als auch immer häufiger im Computer – immer noch Details, die wir noch optimieren können. Schließlich ist Aerodynamik der effizienteste Weg zu noch mehr Effizienz.

 

Hintergrund Automobilentwicklung: Messungen bis 265 km/h im  Aeroakustik-Windkanal

Der Aeroakustik-Windkanal im Mercedes-Entwicklungszentrum Sindelfingen folgt der Göttinger Bauart: Die Luft wird nach der Messstrecke wieder zum Gebläse geleitet und erneut auf maximal 265 km/h beschleunigt. Um störende Turbulenzen und Wirbel zu eliminieren wird die Luft gerichtet und geglättet, bevor sie dann über eine Düsenfläche von 28 Quadratmetern in die Messstrecke gelangt. Diese Aufgabe übernehmen Gleichrichter und Siebe.

Für die Nutzung als Akustik-Kanal, in dem die Windgeräusche innen und außen am Versuchsfahrzeug gemessen werden, wurden umfangreiche Geräuschdämm-Maßnahmen integriert. Noch bei 140 km/h strömt die Luft daher „flüsterleise“ durch die Messstrecke.

Kernstück der 19 Meter langen Messstrecke des Windkanals ist das etwa 90 Tonnen schwere Laufband-Waage-System mit Drehscheibe. Fünf getrennte Laufbänder simulieren die Straße, deren relative Bewegung zum Fahrzeug die Luftströmung besonders am Unterboden beeinflusst. Das Laufband-Waage-System ist in eine Drehscheibe mit zwölf Meter Durchmesser integriert. Für Seitenwind-Simulationen können die Fahrzeuge auch unter einem Winkel angeströmt werden.

Redaktion