Logbuch Nio ET7

Unterwegs mit der großen Limousine des China-Newcomers. Fahrbericht.

Nio, der Elektrospezialist aus China, greift jetzt auch in Deutschland an. Erstes Fahrzeug ist der Nio ET7 (unser Aufmacherbild), der mit zwei unterschiedlichen Batteriegrößen noch in diesem Jahr ausgeliefert werden soll.

Der Newcomer setzt im Vertrieb auf maximale Flexibilität. Der ursprüngliche Plan, die europäischen Kunden ausschließlich per Leasing zu bedienen, scheiterte aber an der Realität. Die Kalkulation war unrealistisch – 1311,21 Euro für den ET7 mit der großen 100-kWh-Batterie und einer Laufzeit von 36 Monaten – die Kunden winkten ab. Hinzu kommt: Anders als in den aufstrebenden Emerging Markets gibt es im guten alten Europa noch Leute, die ein Auto besitzen wollen. Das hat neben emotionalen vor allem auch wirtschaftliche Gründe. Leasing lohnt sich eben häufig nicht.

Nio reagierte prompt. Die Preisliste nennt 49.900 Euro für für den ET5, eine mittelgroße Elektro-Limousine, und 73.900 Euro für den Elektro-SUV EL7. Beide Modelle können bereits bestellt werden, die Auslieferung soll im ersten Quartal 2023 starten.

Schwerer Wagen, günstiger Verbrauch

Der Nio ET7 kostet 69.900 Euro. Die mächtige Limousine soll mit der großen 100-kWh-Fahrbatterie 500 Kilometer Reichweite schaffen, die ersten Kilometer mit dem 5,10 Meter langen, 1,99 Meter breiten und 2,4 Tonnen schweren Viertürer bestätigten die optimistischen Werksangaben. Trotz einiger richtig schnell absolvierter Abschnitte pendelte sich der Verbrauch nach mehr als 250 Kilometern bei 19,6 kWh/100 km ein. Das kann sich sehen lassen.

Angetrieben wird die Limousine an beiden Achsen, die E-Motoren leisten 180 kW (245 PS) vorn und 300 kW (408 PS) hinten. Maximales Drehmoment 850 Newtonmeter, Standardsprint auf Tempo 100 in 3,8 Sekunden, Topspeed 200 km/h (elektronisch abgeregelt). 

Batterietauschsystem Power Swap Station

Eher durchschnittliche Ladeleistungen – elf kW mit Wechselstrom (AC), 130 kW am Schnelllader (DC) – kontert Nio mit dem Batterietauschsystem Power Swap Station (PSS). Und so funktioniert es: Im Wagen wird über den Touchscreen der Tauschvorgang aktiviert, das Auto fährt selbstständig in die Station, die Halteschrauben werden gelöst, der Akku verschwindet im Boden, die neue Batterie fährt hoch und wird verschraubt. Fertig. Das dauert fünf Minuten, der komplette Vorgang ist vollautomatisiert. Kostenpunkt: zehn Euro pro Wechsel plus die Energiedifferenz der beiden Akkus.

Vorteil: Bei jedem Tausch werden der Zustand der Batterie und des elektrischen Systems  geprüft, um sicherzustellen, dass sowohl das Auto als auch die Batterie in optimalem Zustand sind. Sagt Nio. Nachteil: Ohne Tauschstation kein Batteriewechsel. Und: Die Fahrbatterie ist das spannende Zentrum des Elektroautos. Sagen wir. Keine prickelnde Vorstellung also, einen gepflegten Stromspeicher möglicherweise gegen ein abgerocktes Akkuteil zu tauschen. 

Nio will bis Ende 2023 in Europa 120 Stationen installieren, die erste wurde gerade an der A8 in Zusmarshausen eröffnet. Ein weiterer Standtort soll zeitnah in Berlin-Spandau folgen, Wechselkapazität 100 Autos pro Tag.

Voll digital

Beim extrem clean gestalteten Instrumententräger zeigt der Nio seine komplette Ausrichtung auf die Digitalisierung. Schalter oder Knöpfe gibt es nicht. Die Anzeigen werden digital auf einem 10,2 Zoll großen Display gezeigt. Wie ein Tablet ist ein 12,8 großer Touchscreen direkt am  Armaturenträger am Ende der Mittelkonsole platziert, ist dort für Fahrer und Beifahrer gut sicht- und bedienbar. Das ist wichtig, denn dem Nio ET7 muss so gut wie alles über den Touchscreen oder per Sprachbefehl vermittelt werden. Nicht einmal die Höhen- oder Längsverstellung des Lenkrads  lässt sich einfach manuell erledigen. Lediglich die Fensterheber, die Warnblinkanlage, die automatische Ver- und Entriegelung der Türen sowie die Wahl der Fahrmodi sind per Knopfdruck zu bedienen. Zudem gibt es am Lenkrad Bedientasten.

Unterschiedliche Rekuperationsstufen hingegen bietet der ET7  nicht. Das regelt der Nio selbstständig. Alles ist letztlich auf die Zukunft des automatisierten Fahrens ausgerichtet. Das ist auch an den elf hochauflösenden Kameras plus Sensoren – auffällig erkennbar am oberen Rand der Frontscheibe -, fünf Radarsystemen sowie einem Hochleistungsrechner abzulesen. Die Chinesen haben so etwas wie einen Supercomputer auf Rädern entwickelt.

Das zeigt sich letztlich auch bei den Fahrmodi. Selten haben wir eine derartig breite Spreizung zwischen den unterschiedlichen Einstellungen erfahren. Beim Wechsel von Komfort auf Sport oder gar Sport+ geht eine extrem kraftvolle Veränderung durchs Auto, Lenkung, Federung und Dämpfung werden ebenso wie das Ansprechverhalten des Antriebs massiv direkter. Es kommt fast so etwas wie ein Sportwagenfeeling auf. Gleichwohl behält der Nio ET7 auch dann noch die  im Komfort-Modus zu spürenden Qualitäten. Dank der Luftfederung werden Stöße gefiltert, die Limousine liegt satt auf der Straße und lässt sich bei flotter Fahrt locker um die Ecken steuern.

Nomi ist witzig

Locker und witzig haben die IT-Spezialisten die virtuelle Assistentin Nomi ausgestattet.  Sie verarbeitet so gut wie alle Arten von Sprachbefehlen und ist mit künstlicher Intelligenz ausgestattet – lernt also ständig dazu. Optisch liegt Nomi als aufgesetzte Kugel mit zwei Augen auf dem Armaturenbrett. Spielt Musik, tauchen Instrumente auf, ist der Beifahrer nicht angeschnallt, dreht sich die Kugel in die Richtung und macht ihn aufmerksam, wird das zulässige Tempo überschritten, warnt Nomi. 

Ja, im futuristischen Nio können auch richtige Menschen mitfahren. Jede Menge Platz auf 3,06 Meter Radstand, die Sitze vorn wie hinten beheizbar, belüftet und mit der bei Chefs beliebten Massagefunktion. Die Materialien wirken hochwertig, ebenso wie die Verarbeitung.

Minuspunkte: Die eingeschränkte Sicht nach hinten, der etwas klein geratene Zugang zum Kofferraum und die mangelhafte Variabilität – die Rücksitzlehnen können nicht umgeklappt werden. 

Langstrecken-Akku

Bereits für das kommende Jahr verspricht Nio übrigens eine weitere Akku-Option: Langstreckenkapazität 150 kWh.

Foto: Nio

 

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Wolfgang Schaeffer