Schriftliche Begründung des „Diesel-Urteils“: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Fokus. Sonderregelungen für Handel und Gewerbe.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat vor wenigen Tagen sein „Diesel-Urteil“ schriftlich begründet. Dabei macht es deutlich, dass eine Richtlinie der EU aus dem Jahre 2008 Umwelt-Behörden zu Einschränkungen für den Autoverkehr zwingen kann, wenn die Schadstoffbelastung in bestimmten Gebieten zu hoch ist. Das gilt auch dann, wenn die Schadstoff-Belastungen rückläufig sind.
Das BVerwG stellt Maßstäbe für das Handeln der Behörden auf. In jedem Falle müsse bei Einschränkungen für den Fahrzeugverkehr der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für jedes Verwaltungshandeln gelte, beachtet werden. Dies haben nach Meinung des BVerwG die Verwaltungsgerichte nicht getan, weil sie nur auf den Charakter des Fahrzeugs, nicht aber auf das Emissionsverhalten abgestellt haben. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme, also den Fahrverboten, und den dadurch herbeigeführten Belastungen. Er setzt den Einschränkungen für die Autofahrer Grenzen und verlangt die Berücksichtigung eventueller wirtschaftlicher Folgen bei weitreichenden Verkehrsverboten.
Fragezeichen für das Hamburger Beispiel
Das Gericht fordert eine phasenweise Einführung von Verbotszonen. In einer ersten Stufe sollten nur ältere Fahrzeuge bis zur Abgasnorm Euro 4 von Verboten erfasst werden. Für die neueren Fahrzeuge (Euro 5) kommen Verbote nicht vor dem 1.9.2019 in Betracht, da bis dann eine angemessene Frist seit dem Inkrafttreten der Abgasnorm Euro 6 im Jahr 2015 verstrichen ist. Dem Autobesitzer verbliebe bis dahin eine uneingeschränkte Mindestnutzungsdauer von vier Jahren. Das Hamburger Beispiel, erste konkrete Fahrverbotszonen auch für Euro-5-Diesel einzurichten, ist vor diesem Hintergrund mit einem Fragezeichen zu versehen.
Für die Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 4 und älter sowie benzin- oder gasbetriebene Ottomotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 3 bedarf es auch nach Meinung des obersten deutschen Verwaltungsgerichtes keiner Übergangsfristen. Die werden faktisch dadurch erreicht, dass es sicher über ein Jahr dauert, bis die Luftreinhaltepläne der betroffenen Städte und Regionen überarbeitet und in Kraft gesetzt sein werden.
Freie Fahrt für Handwerker
Bei der Festlegung des Zeitpunktes der Geltung von Verkehrseinschränkungen für Euro-5-Fahrzeuge muss die Verwaltung nach dem Urteil auch aktuelle Erhebungen zur Grenzwertüberschreitung bestimmter Schadstoffe berücksichtigen. Das Gericht erwartet weiter, dass die Verwaltung bestimmte Gruppen von Autofahrern von den Verkehrsverboten ausnimmt (z.B. Handwerker).
Für Entschädigungen reicht es nicht
Es lehnt eine Entschädigungsregelung für die betroffenen Fahrzeughalter ab, da sie nur einer „verhältnismäßigen“ Nutzungseinschränkung unterliegen würden. Artikel 14 des Grundgesetzes, der das Eigentum schützt, biete keinen grundsätzlichen Schutz gegen jede Minderung der Wirtschaftlichkeit. Verkehrsverbote beträfen im Übrigen nur einen Bruchteil des Straßennetzes in Deutschland. Damit seien auch ein Zusammenbruch des Gebrauchtwagenmarktes oder besonders hohe Marktwertverluste für einzelne Fahrzeugtypen nicht zu befürchten.
Das BVerwG hat sich bemüht, den Interessen der Umwelt, aber auch denen der Autofahrer gerecht zu werden. Interessant ist auch die Passage des Urteils, die darauf hinweist, dass es auf die Schadstoffe ankommt und nicht auf den Fahrzeugtyp (Diesel gegen Benziner). Auch insofern hat sich die Revision durch die beklagten Verwaltungen gelohnt.
Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.