Aurora. Oder die Morgenröte tief im Westen

Über selbstfahrende Mühlen, die Digitalisierung und den Gleichschritt des Fortschritts.

Aurora mit dem Sonnenstern – das ist das Mehl mit der Sonne auf der Packung. Die Älteren unter den Älteren erinnern sich noch an den Jingle, der im Radio lief: Aurora mit dem Sonnenstern mögen alle Kinder gern. Die wirklich wichtigen Dinge vergisst man eben nie. Zum Beispiel das Mehl, das Mutter glücklich machte, weil der Kuchen, den sie damit buk, die heilige Familie glücklich machte. Das waren noch Zeiten. Mütter mit Schürzen. Kinder mit roten Backen. Väter mit strengen Mienen. Im Krieg hatten sie mit ihren Panzern und Kanonen und Karabinern noch auf dieses und jenes geschossen, jetzt verdienten sie das Geld. Doch ich schweife ab. Und das nur, weil Aurora, die Göttin der Morgenröte, vergangene Woche innerhalb einer Stunde gleich zweimal über meinen Schreibtisch leuchtete. Nicht die Mehlpackung, die bis heute in den Premiumküchenschränken qualitätsbewusster deutscher Haushalte steht. Sondern die KI-Jünger aus dem Valley, die vermutlich alle in Frisco wohnen und jeden Tag über die Golden Gate cruisen dürfen. Doch dazu später mehr.

Zunächst einmal geraten in diesen Tagen profanere Themen auf den Schirm. Keine Zukunft! Noch nicht jedenfalls. Keine Götter, schon gar keine Göttinnen. Nur eine Bundeskanzlerin, der die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben ist. Dreieinhalb Monate liegt die Bundestagswahl jetzt zurück. Die neue Regierung? Ja gut, so schnell schießen die Preußen auch wieder nicht. Erst musste mal die Niedersachsen-Wahl abgewartet werden (drei Wochen). Dann grinste man sich auf dem Balkon durch sogenannte Sondierungsgespräche (fünf Wochen). Dann war Sendepause (vier Wochen). Dann kamen die Feiertage, aber wer möchte Weihnachten und Silvester schon auf zugigen Balkonen stehen. Obwohl, Silvester…  Aber das ist eine andere Geschichte. 14 Wochen nichts passiert. Dabei müsste Frau Merkel nur zurücktreten. Grund genug hätte sie nach dem desaströsen Wahlergebnis ihrer CDU. Aber sie kann nicht genug kriegen. Die Macht ist süß wie Muttis Marmorkuchen, angerührt mit feinstem Weizenmehl.

Noch tappen die (meisten) Medien mit auf Merkels Schleichpfaden der Macht. Keiner weiß, warum. Vielleicht ist es nur die wohlige Wärme im Raumschiff Berlin, die schläfrig macht. Stattdessen meckert man auf Nebenkriegsschauplätzen. Die Bahn hat den neuen Hochgeschwindigkeits-ICE Berlin-München nicht im Griff. Oh Gott, wieder ist die Bundeshauptstadt mit im Spiel! Oder die elektrischen Lieferwagen der Post. Die benehmen sich wie richtige Elektroautos – nach vergleichsweise kurzer Strecke geht ihnen der Saft aus. Jetzt frieren die Postboten, weil Reichweite wichtiger als Heizung ist. Häme, Spott allenthalben. Dabei haben wir es, um im medialen Bild zu bleiben, mit Druckfehlern, mit Tonstörungen zu tun. Ärgerlich genug, na klar. Aber technische Probleme tauchen auf, sobald man Technik einsetzt. Und Menschen machen Fehler, das wusste schon das Alte Testament. Früher, im ungeheizten gelben Post-Käfer, waren die Postboten übrigens mit Fellmützen und langen Unterhosen unterwegs. 

Also alles klar auf der Andrea Doria. Bloß kein Stress. Sie fahre gerne auf Sicht, teilt die freundliche Frau aus der Uckermark mit, die zuhause beim Kartoffelsuppe kochen schon mal vergisst, dass sie Bundeskanzlerin ist. Kein schlechtes Rezept, aber ein bisschen von gestern halt.

Die schnelle Welt von heute gäbe es nicht, würden alle auf Sicht fahren. Flugzeuge, Schiffe, Aktienhändler – alle mit Radar ausgestattet oder wenigstens mit Elektronik. Wir müssen aufpassen, dass uns die Welt nicht davon zieht, wenn wir dran bleiben wollen. Das gilt für alle, die schon länger hier leben, auch für Bundeskanzler. Frau Merkel sagt, sie setze jetzt auf Digitalisierung. Bei ihr klingt das so, als wolle sie sich im Spieleladen um die Ecke endlich eine Spielkonsole von Nintendo besorgen. Nintendo ist übrigens eine japanische Firma, gegründet 1889. Bevor man vor 40 Jahren in die Digitalisierung einstieg, stellte man Spielkarten her. Die Leute haben schon immer gerne gespielt, sagt man in Kyoto.

Japan liegt fern im Osten. Wenn dort die Sonne untergeht, geht sie bei uns gerade auf. Das ist allerdings nur ein schräges Bild. Kalifornien hingegen liegt tief im Westen. Noch tiefer als Bochum. Wäre der Pazifik nicht im Weg, könnte man von Kalifornien aus fast den Fernen Osten berühren, also Japan zum Beispiel oder China oder Korea.

Was uns zurück zum Thema Aurora führt. Mit Mühlen haben die Leute von Aurora in Palo Alto aber nichts zu tun, es sei denn, man bezeichnet Fahrzeuge so. Aurora Innovation beschäftigt sich im Silicon Valley und anderswo nämlich mit einer Technik, die dem Wort Automobil 130 Jahre nach dessen Erfindung endlich die finale Bedeutung geben soll – selbstfahrende Autos, das sind keine weißen Schimmel, sondern Wunderwerke der Individualverkehrstechnik, die auf Wunsch und Ansage automatisch überallhin fahren, während der eigentliche Fahrer Zeitung liest, obwohl heutzutage natürlich niemand mehr Zeitung liest.

Das verwirrt Sie? Nicht doch, das ist die Zukunft. Mancher in der Politik würde sogar von Digitalisierung reden. Das Selbstfahrtechnik-Knowhow von Aurora Innovation jedenfalls muss gut sein, sehr gut sogar. So gut, dass die Branchenriesen Volkswagen und Hyundai am vergangenen Freitag im Abstand von einer halben Stunde strategische Partnerschaften mit der kleinen Hightech-Schmiede verkündeten. Man will das selbstfahrende Auto, das finale Automobil also, gemeinsam entwickeln. Jetzt und sofort. Alte trifft neue Industrie. Gleichschritt im Fortschritt. Morgenröte tief im Westen. 

Hugo von Bitz