VDA-Präsident Bernhard Mattes hat in seiner IAA-Eröffnungsrede am Donnerstag (12.09.2019) vor einer „Verbotsdiskussion“ gewarnt. Wir dokumentieren seine Rede im Wortlaut.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
vor zwei Wochen ist mit Ferdinand Piëch eine der prägendsten Persönlichkeiten der deutschen Automobilindustrie von uns gegangen.
Wenn ich heute hier stehe, dann denke ich daran zurück, wie Ferdinand Piëch auch zahlreiche IAAs mit seiner Präsenz und mit der Kraft seiner Argumente geprägt hat. Ferdinand Piëch hat zeitgleich die Fundamente für den Aufstieg von Volkswagen zum größten Automobilkonzern gelegt und als Visionär automobile Innovationen vorangetrieben. Beides ist ihm mit außerordentlichem Erfolg gelungen, und er hat damit Maßstäbe und Standards für die gesamte deutsche Automobilindustrie gesetzt.
Stellvertretend für die im Verband der Automobilindustrie versammelten Unternehmen verneige ich mich vor Ferdinand Piëchs Verdiensten für die deutsche Automobilindustrie. Ohne ihn wären wir heute nicht da, wo wir stehen.
Mobilität bewegt. Mobilität bewegt nicht nur Menschen und Güter, Mobilität bewegt auch Gemüter. Wir haben dies in den letzten Monaten erlebt:
Wie kaum eine IAA zuvor hat diese Internationale Automobilausstellung bereits weit im Vorfeld intensive Diskussionen angestoßen. Wir haben mit Herstellern, Zulieferern Mobilitätsdienstleistern und Start-Ups diskutiert, was eine Automobilausstellung im Jahr 2019 leisten muss. Sie erleben deshalb heute eine IAA, wie es sie noch nie gab: dialogisch, vielfältig, erlebnisorientiert und weit über die Sphäre des Automobils herausschauend.
Und wir haben mit NGO, Bürgerinnen und Bürgern diskutiert, die einen schnellstmöglichen Einstieg in die klimafreundliche Mobilität suchen, die für neue Mobilitätsangebote jenseits des Autos plädieren und die den öffentlichen Raum nicht dem PKW allein überlassen möchten. Auch hier haben wir gemeinsam schon viel erreicht: Wir reden miteinander, nicht übereinander. Das ist heute nicht immer selbstverständlich. Wir bringen Kritiker und die Spitzen der deutschen Automobilindustrie an einen Tisch. Und wir als Verband der Automobilindustrie werden diese Dialoge fortsetzen.
Wir stehen für nachhaltige und individuelle Mobilität. Nachhaltig, weil wir einen starken Beitrag zum Klimaschutz, aber auch zu Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Standards weltweit leisten wollen und müssen. Und individuell, weil sich Arbeit, Freizeit, Familie, Privatleben im digitalen 21. Jahrhundert nicht mehr in Schablonen und Fahrpläne pressen lässt. Der Weg in eine nachhaltige und individuelle Mobilität der Zukunft ist die tiefgreifendste Transformation, die unsere Branche je bewältigen musste. Diesen Weg müssen wir gemeinsam gehen: Unsere Unternehmen, die Bürgerinnen und Bürger, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Politik. Das bedeutet nicht, dass wir immer einer Meinung sein müssen. Das bedeutet vielmehr, dass wir die Auswirkungen unserer Vorschläge und unserer Handlungen auf Umwelt und Klima, auf Stadt und Land und vor allem auf unsere Mitmenschen mit ihren höchst unterschiedlichen Bedürfnissen bedenken und respektieren müssen.
Was sind die Herausforderungen der automobilen Transformation?
- Zum Schutz des Klimas müssen wir Autos und Lastwagen perspektivisch CO2-frei herstellen und betreiben, was eine komplette Umstellung der Antriebe und Kraftstoffe innerhalb weniger Produktzyklen erfordert.
- Die Digitalisierung der Mobilität revolutioniert bestehende Geschäftsmodelle, lässt neue Geschäftsfelder entstehen und bringt neue Partner und Wettbewerber aus völlig anderen Branchen aufs Spielfeld. Kein Stein bleibt in der Automobilindustrie auf dem anderen!
- Wir erleben in den jüngeren Generationen einen Mentalitäts- und Wertewandel, der zu neuen, veränderten Mobilitätsbedürfnissen führt, die Industrie als Arbeitgeber vor neue Herausforderungen stellt und eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Industrie und Gesellschaft erfordert.
Jede einzelne dieser Herausforderungen ist groß. Zusammen sind sie eine Mammutaufgabe. Oftmals wird heute von verschiedensten Seiten suggeriert, der Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen sei der Ausstieg aus der individuellen Mobilität. Dem widerspreche ich ausdrücklich.
Ja: Es macht keinen Sinn, wenn sich tagtäglich mit nur einer Person besetzte Fahrzeuge im Berufsverkehr zum Stau verabreden und Bussen und Bahnen den Weg versperren. Ja: Zu viele Fahrzeuge in der Stadt beeinträchtigen unsere Lebensqualität durch Lärm, Abgase und Flächenverbrauch. Ja: Unsere Kunden fragen aktuell eher größere denn kleinere Fahrzeuge nach, das erhöht für uns die Herausforderung, die Fahrzeuge noch effizienter zu machen. Aber: Die Lösung dieser Probleme ist nicht die Preisgabe individueller Mobilität durch Verbote und Überregulierung. Individuelle Mobilität und Klimaschutz sind kein Widerspruch. Mit Verbotsdiskussion gefährden wir die Akzeptanz und damit den Erfolg der Transformation der Mobilität. Wir dürfen keinen Keil treiben zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt.
Es gibt Menschen, denen der Verzicht auf individuelle Automobilität nicht schwerfällt: Wir machen ihnen Angebote jenseits des Autos. Und es gibt Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht auf das Auto verzichten wollen, oder können: Wir machen ihnen Angebote für nachhaltige, individuelle Mobilität.
Mobilität ist ein Grundbestandteil unserer freien Gesellschaft. Das Auto ermöglicht uns Menschen diese individuelle Mobilität und zuverlässige, moderne Dienste. Es sorgt für Freiheit, positive Emotionen und erfüllt viele Menschen mit Stolz. Mit unterschiedlichen Antriebskonzepten, Raumangeboten und Anwendungsgebieten ist es das flexibelste, bedarfsgerechteste und nachhaltigste Mobilitätsangebot. Diese individuelle Mobilität müssen wir gestalten und nicht einschränken!
Das Auto hat eine beeindruckende Vergangenheit und sichert Wohlstand in der Zukunft! Lassen wir diese Chancen nicht ungenutzt!
Manche NGO sieht in der Automobilindustrie ein wildes Raubtier, das zur Strecke gebracht werden muss. Manche Politiker betrachten uns und die Autofahrer als eine Kuh, die man beliebig melken kann. Gott sei Dank gibt es aber viele, die in der Automobilindustrie das Arbeitspferd sehen, das mit seinen PS den ganzen Karren zieht.
Einige Gedanken zum Thema Klimaschutz: Die deutsche Automobilindustrie bekennt sich uneingeschränkt zu den in Paris vereinbarten Klimazielen. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Deshalb stellen wir hier und heute auf der IAA vor:
– großserienreife batterieelektrische PKWs,
– Brennstoffzellen- und Wasserstofftechnologie und
– verbrauchs- und schadstoffoptimierte Hybride in allen Ausprägungen
Der elektrifizierte Verbrennungsmotor, ob als Plug-In-Hybrid oder als Mild-Hybrid, hat erhebliche Minderungspotentiale beim CO2-Ausstoß. Er wirkt sofort und schließt die Lücken, für die rein batterieelektrisch betriebene Fahrzeuge nicht in Frage kommen. Niemand kann heute sicher vorhersagen, wie nachhaltige und individuelle Mobilität 2030 aussieht. Deshalb dürfen wir heute keine technologische Option abwürgen, die wir morgen vielleicht noch brauchen. Die Zahl der angebotenen Modelle, vom Mild-Hybrid bis zu batterieelektrischen Fahrzeugen, wird in den nächsten Monaten weiter rasant wachsen. Was jedoch nicht im gleichen Maße wächst, ist die notwendige Infrastruktur, die wir für einen klimaneutralen Betrieb dieser Fahrzeuge brauchen:
- Der Aufwuchs erneuerbarer Energien
- Der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze für CO2-neutralen Strom
- Eine intelligente Einbindung von Elektrofahrzeugen in den Stromsektor
- Der Aufbau einer Ladeinfrastruktur, im privaten wie im öffentlichen Raum
All dies kommt viel zu langsam voran. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen nicht nur bei der Politik. Auch viele Interessengruppen verwechseln noch viel zu häufig das Gaspedal mit dem Bremspedal. Deshalb: Solange die unabdingbar notwendigen Rahmenbedingungen zur Erreichung der aktuellen Klimaziele für 2030 und 2050 nicht geschaffen sind, sollten wir nicht über neue, noch ambitioniertere Ziele, und vor allem: kurzfristig verschärfte Zwischenziele, nachdenken. Wir brauchen Planungssicherheit und sollten zu gemeinsam beschlossenen Zielen stehen, statt diese in Frage zu stellen. Anstelle einer Klimapolitik, die auf Verbote oder de-facto-Verbote setzt, brauchen wir als Hersteller und Zulieferer das Vertrauen von Politik und Gesellschaft, dass wir mit Innovation und Ingenieurskunst die besten technischen Lösungen und die geeigneten Pfade zum klimaneutralen Verkehr finden. Und zwar so, dass es für unsere Kunden attraktiv ist. Denn ohne den Kunden können wir den Weg zur klimaneutralen Mobilität nicht gehen.
Ich bin mir bewusst, dass nicht alle in unserer Branche in den vergangenen Jahren ihr Bestes gegeben haben, um Vertrauen zu schaffen, zu pflegen und wiederzuerlangen. Deshalb beziehe ich unsere Branche explizit in meinen Appell ein: Nur mit der Mitwirkung und mit dem Vertrauen unserer Kundinnen und Kunden begünstigen wir Akzeptanz und können die klimapolitischen Ziele erreichen, nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger.
Einen erheblichen Beitrag zu einer Senkung der CO2-Emissionen im Verkehr können Digitalisierungstechnologien leisten. Digitale Technik hilft bei der Verkehrsvermeidung und optimiert Verkehrsflüsse. Sie lastet Verkehrsträger besser aus und trägt nicht zuletzt zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr bei.
Wie keine andere Branche in Deutschland investieren wir deshalb in die Erforschung und Entwicklung digitaler Technologien. Wir machen schnelle und weitreichende Fortschritte bei den Technologien für das vernetzte und automatisierte Fahren. Auch hier gilt: Im internationalen Wettbewerb erfolgreich werden wir am Ende nur sein, wenn es uns in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelingt, funktionierende Ökosysteme für die digitale Mobilität der Zukunft zu schaffen. Das werden wir nicht allein schaffen, dafür brauchen wir Partner aus anderen Industrien und Technologiefeldern.
Und deshalb freue ich mich, dass uns John Krafcik von Waymo seine Vision der Mobilität von morgen zeichnen wird: digital, automatisiert, nachhaltig und individuell.
Um in Deutschland erfolgreich sein zu können, brauchen wir leistungsfähige Kommunikationsnetze in der Fläche – Stichwort: 5G – um alle Verkehrsinfrastrukturen und Fahrzeuge vernetzen zu können. Und: Nur wenn digitale Technologien auch Akzeptanz und Vertrauen finden, haben wir eine Chance, diese erfolgreich in den Markt zu bringen.
Fragen der Akzeptanz beschäftigen uns aber nicht nur in Bezug auf einzelne Technologien, sondern auch im Kontext von Mobilität im Allgemeinen. Wir erleben einen Wandel von Einstellungen und Werten auf vielen Ebenen gleichzeitig, eine Differenzierung von Positionen, wie wir sie bislang nicht kannten: So hat der Besitz eines Autos vor allem für jüngere, urbane Menschen nicht mehr die Bedeutung, die es noch für die Generation ihrer Eltern hatte. Darauf stellen wir uns ein, mit zusätzlichen, bedarfsgerechten Angeboten. Wir tun, was wir können. Und wir können viel. Das ist hier zu erleben und – das ist mir besonders wichtig – in Kürze in den Autohäusern auch zu bestellen. Und dort entscheidet sich auch, ob die Transformation der Mobilität in der Geschwindigkeit und in dem Umfang gelingt, den wir uns wünschen und den wir benötigen, um unsere Klimaziele zu erreichen.
Wie können wir den Bürgerinnen und Bürgern den Umstieg auf klimafreundliche Fahrzeuge erleichtern? Natürlich mit Fahrzeugen, die einen grünen Fußabdruck hinterlassen, die unsere Lebensqualität verbessern, die Spaß machen und begeistern. Aber: das allein wird nicht reichen. Wir brauchen auch eine intelligente Förderkulisse, die alle energieeffizienten und klimaschonenden Antriebstechnologien fördert. Und wir brauchen eine Steuerung des Energieverbrauches durch ein ausgewogenes CO2-Bepreisungssystem. Aus unserer Sicht ist das im Idealfall eine Mengensteuerung über den Emissionshandel auf nationaler, besser noch: europäischer Ebene. Die Wirtschaft kühlt sich ab, das konjunkturelle Klima wird rauer, in Deutschland, in Europa und weltweit. In dieser Phase der Unsicherheit, inmitten der Transformation, die die Automobilindustrie durchläuft, stellen die zunehmenden weltweiten Handelskonflikte eine große Herausforderung dar.
Das gilt für den BREXIT – den wir sehr bedauern – das gilt aber auch für das Verhältnis zu den USA und zu China. So schwierig derzeit der Dialog mit Washington, Peking und vielen anderen Regierungen auch ist, so sehr brauchen wir regulatorische Kooperationen und Abkommen über den Abbau von Zöllen, Handelshemmnissen und Subventionen. Wir müssen für offene Märkte eintreten und gegen Protektionismus vorgehen.
Ihnen allen wünsche ich faszinierende Einblicke in die Mobilität von morgen, die heute auf der IAA beginnt. Ich wünschen Ihnen spannende Diskussionen auf der IAA Conference. Und ich lade Sie herzlich ein, auf den Freigeländen die Mobilität von morgen selbst zu erleben.“
Unser Bild Bernhard Mattes (Mitte) mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Opel-Chef Michael Lohscheller auf dem Opel-Stand. Foto: Opel