Mit einem Sieg des Renault-Piloten Sébastien Buemi ist die elektrische Rennserie in ihre zweite Saison gestartet. Zehn Teams geben in elf Rennen Strom, das überarbeitete Reglement bezieht sogar die Zuschauer mit ein.
Die Zeiten, in denen Väter mit ihren Söhnen dem ersten Formel-1-Saisonrennen in Australien entgegenfieberten und auch nicht davor zurückschreckten, den Start um fünf Uhr (MEZ) live mitzuverfolgen, sind vorbei. Michael Schumacher war das Idol einer Generation kleiner Jungen, und Kartbahnbetreiber konnten sich vor Kunden kaum retten. Die Formel 1 war ein Zuschauermagnet.
Doch wir schreiben das Jahr 2015. Die kleinen Jungs von damals sind jetzt um die 30, der neue deutsche Formel-1-Held heißt Sebastian Vettel, und die Formel 1 kämpft um Zuschauerzahlen. Die Alarmglocken schrillen: Im Motorsportland Deutschland gab es in der Saison 2015 kein Formel-1-Rennen – zu teuer und deshalb nicht lukrativ für die Streckenbetreiber.
Die Zeiten haben sich geändert. Das Auto ist nicht mehr Statussymbol. Kein vernünftiger Mensch definiert sich noch über PS-Zahlen. Und wer die Umwelt thematisiert, muss deshalb noch lange nicht Sandalen tragen. Die Prominenz macht es vor, Nachhaltigkeit ist das Stichwort der Stunde. Zum Beispiel Leonardo DiCaprio: Der Hollywoodstar hat eine Umweltstiftung gegründet. Er spricht auf UN-Klimagipfeln. Und ist trotzdem Teilhaber eines Motorsport-Formel-Rennstalls. Oder gerade deshalb. Titanic-Star DiCaprio („Ich bin der König der Welt“) finanziert das monegassische Venturi Formula-E-Team.
Die Formel E ist die erste elektrische Rennserie der Welt. Am 24. Oktober 2015 startete sie in Peking in ihre zweite Saison. Ganz leise hat sich der Schweizer Sébastien Buemi auf Renault e.dams zuerst die erste Poleposition und dann unangefochten den ersten Sieg und somit 30 Punkte gesichert. Elf Sekunden Vorsprung hatte Buemi vor dem Vorjahressieger Lucas di Grassi. Nick Heidfeld vervollständigte als Dritter mit 24 Sekunden Rückstand das Siegertreppchen.
Auch diese Saison kämpfen wieder zehn Teams mit zwanzig Fahrern in elf Rennen um den FIA-Weltmeistertitel. Der erste Titelverteidiger heißt Nelson Piquet junior (Team Nextev TCR). Der Sohn des dreimaligen Formel 1-Weltmeisters Nelson Piquet erkämpfte sich die erste Formel E-Weltmeisterschaft der Geschichte mit einem einzigen Punkt Vorsprung auf den Schweizer Sébastien Buemi.
Die Debutsaison bot Rennsport pur auf der Basis absoluter Waffengleichheit beim Material, alle Teams waren mit identischen Autos am Start. Der Spark-Renault SRT_01E basierte auf einem Chassis von Dallara, der Elektronik und dem Elektromotor von McLaren, der Batterie von Williams und den Reifen von Michelin. Renault-Ingenieure koordinierten das Zusammenspiel der einzelnen Teile – ein nicht zu unterschätzendes Indiz für die Tatsache, dass die Branche zusammenarbeitet, um das Thema E-Auto an den Mann und an die Frau zu bringen. Und der Spark-Renault SRT_01E zeigte, dass ein E-Auto nicht nur umweltfreundlich, sondern auch schnell sein kann: Die Maximalleistung von 200 kW (272 PS) konnte in den Trainingsläufen abgerufen werden, in den Rennen standen den Fahrern immerhin knapp 150 kW (204 PS) zur Verfügung. Höchstgeschwindigkeit: rund 225 km/h. Die Formel E ist also langsamer als die Formel 1, sie ist wegen ihrer Ausgeglichenheit aber viel spektakulärer.
Bislang zumindest. In der laufenden Saison 2015/16 darf jedes Team ein eigenes Fahrzeug stellen, die Maximalleistung im Rennen wurde auf 170 kW (231 PS) erhöht. Die Spannung steigt also in der Formel E, im Sinne des Wortes. Doch noch ist der Strom im Rennsport zuweilen ein träger Fluss: Weil die Akkus (noch) nicht die gesamte Distanz durchhalten und ein Akkutausch zu zeitaufwändig wäre, werden die rund einstündigen Rennen auch in der neuen Saison mit jeweils zwei Autos gefahren.
Das ist fürs Publikum zumindest gewöhnungsbedürftig, aber alle Beteiligten postulieren das lang-fristige Ziel, die Rennen so schnell wie möglich mit einer einzigen Batterieladung bestreiten zu können. Nachhaltigkeit ist überhaupt das zentrale Thema der Formel E. Und nicht nur in Bezug auf den elektrischen und somit umweltfreundlichen Antrieb der Boliden. Formel-E-Chef Alejandro Agag weiß, was der Motorsport braucht, um weiterhin erfolgreich zu sein: „Was die Zukunft des Motorsports angeht, so ist es meiner Meinung nach wichtig, dass man für Veränderungen offen ist und sich um neue Generationen bemüht. Wenn der Sport nicht darauf achtet, seine Fanbasis zu erneuern, wird er auf lange Sicht sterben.”
Die Fans sind die Basis für das erfolgreiche Etablieren der neuen Rennserie und deshalb wird vieles so zuschauerfreundlich wie möglich gemacht. Auch mit den üblichen Vorurteilen gegenüber dem Motor-sport wird aufgeräumt: umweltschädlich, laut, zeitaufwendig, teuer, Männersport.
Problem eins und zwei erledigt der Namensgeber der Formula E, der E-Motor: der ist weder umwelt-schädlich noch laut. Das Publikum kommt nicht mehr (so zahlreich) an die Rennstrecken? Dann kommt die Formel E eben zum Publikum. Die gesamte Rennserie findet auf attraktiven Stadtkursen statt: in Peking, Putrajaya (Malaysia), Punta del Este (Uruguay), Buenos Aires, Long Beach, Paris, Berlin, Moskau und London. Die britische Metropole bietet zum Saisonfinale am ersten Juli-Wochenende 2016 gleich zwei Läufe, für das Rennen am 12. März ist Mexiko-City vorgesehen, aber noch nicht bestätigt. Die Zuschauer wollen sich weniger Zeit für den Rennsport nehmen? Kein Problem: Das komplette Formel E-„Wochenende“ findet an einem Tag statt. Freies Training am Vormittag, Qualifying mittags in vier zufällig gelosten Fünfergruppen und Rennen am Nachmittag. Und auch das neue Qualifying-Format zeigt, dass die Formel E so attraktiv wie möglich sein will. Die fünf schnellsten Fahrer der vier Qualifying-Sessions kämpfen im Einzelzeitfahren im Pole-Shootout um die Poleposition. Die Verkürzung des Rennwochenendes auf einen Tag schont außerdem die Zuschauerportemonnaies: Man benötigt nur ein Tagesticket und das gibt es schon ab 19 Euro. Und schließlich macht die Formel E auch mit dem Einwand Schluss, Formel-Motorsport sei reiner Männersport: Die 27-jährige Schweizerin Simona de Silvestro startet für das Andretti Formula E Team.
Last not least bietet die Formula E den Fan-Boost, einen Extraservice für die wichtige E-Mobilitäts-zielgruppe der Digital Natives. Fans können bis zur sechsten Rennminute per App, auf der Homepage oder per Hashtag (Twitter, Facebook, Instagram) für einen Fahrer abstimmen und somit aktiv am Renngeschehen teilnehmen. Die drei Fahrer mit den meisten Stimmen dürfen während des Rennens einmalig (für fünf Sekunden) zusätzlich 100 kJ Energie abrufen (in einem Fenster zwischen 180 und 200 kW).
Die aktuelle Formel E-Saison wird auf Eurosport übertragen. Hochspannung serienmäßig. Man darf die Prognose in diesem Fall wörtlich nehmen.