Elchtest 2.0

ESP ist im Elektroauto nicht ganz trivial. Die technische Lösung heißt Two-Box-System. Mercedes zeigt auf der Teststrecke, wie der Mensch die Maschine für den Zielkonflikt programmiert.

Was hat der Elch mit der Einführung des Elektronischen Stabilitätsprogramms (ESP) im Automobil zu tun? Mehr als es Mercedes vor 25 Jahren zunächst lieb war. Im Oktober 1997 nämlich kippte die brandneue A-Klasse bei einem schnellen Ausweichmanöver um – und zwar in Schweden, wo der Elch mit den Seinen in freier Wildbahn durch den Wald und über Landstraßen spaziert (unser Aufmacherbild). Der flinke Boulevard beförderte das Malheur forsch zum Elchtest – wäre die A-Klasse in Australien umgefallen, würden wir heute vom Kängurutest sprechen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Beim Daimler jedenfalls machten sie gute Miene zum bösen Spiel, zogen die Spendierhosen an und packten dem hochbeinigen Pummel-Benz (Bild oben) ESP ins Steuergerät. Serienmäßig. Das war gut für die Stimmung und vorbildlich für die Politik: Die Antischleuderelektronik ist seit 2011 in der EU in jedem neu zugelassenen Personenwagen gesetzlich vorgeschrieben.

Im Elektroauto nicht ganz trivial

Die Antischleudertechnik hat sich bewährt, man möchte sie im Alltag nicht mehr missen. Aber im Elektroauto ist die ESP-Programmierung nicht ganz trivial. Denn einerseits stabilisiert die Elektronik das Fahrzeug durch gezielte und blitzschnelle Bremseingriffe an den einzelnen Rädern. Und andererseits reduzieren Vollelektriker und Hybridfahrzeuge die Geschwindigkeit nicht nur über die mechanische Bremse, sondern auch über die Rekuperation. Geht der Fuß vom Strompedal, schaltet der Elektromotor auf Generatorbetrieb um, die Räder übertragen die Bewegungsenergie jetzt via Antriebsstrang zum Generator. Der dreht sich und wandelt dadurch einen Teil der Bewegungsenergie in elektrische Energie. Das Bremsmoment des Elektromotors, das bei der Energieerzeugung entsteht, verzögert das Fahrzeug. Ist mehr Bremsleistung nötig, wird zusätzlich über die Radbremse verzögert.

System Two-Box

Mercedes-Ingenieur Christian Böhm: „Das Bremsregelsystem muss die Aufteilung zwischen Generator und Bremssystem sowie die Stabilität des Fahrzeugs auch bei hoher Rekuperation immer unter Kontrolle haben.“ Das klingt in der Theorie genauso kompliziert wie es in der Praxis ist – gerade und besonders auf nasser oder schneeglatter Fahrbahn. „Wir sind da besonders stolz auf das 2020 in die Serie gebrachte Two-Box-System“, sagt Böhm, der in der in der Mercedes-Entwicklung für die Bereiche Bremsregelsysteme und Fahrdynamikfunktionen zuständig ist.

Two-Box ist eine Kombination aus ESP und elektromechanischem Bremskraftverstärker, der vor allem für Elektroautos unverzichtbar ist. Beim E-Motor fehlt nämlich der sonst übliche Unterdruck, der vom Verbrennungsmotor erzeugt und zum herkömmlichen Bremskraftverstärker geleitet wird. „Der schnelle Bremsdruckaufbau des Systems ermöglicht unter anderem einen kurzen Bremsweg bei einer automatischen Notbremsung“, sagt Böhm. Je nach Fahrsituation könne so automatisch der flexible Wechsel zwischen hydraulischem Bremsen und Rekuperation gesteuert werden. Ziel: eine möglichst optimale Energierückgewinnung. 

Rechts Grip, links glatt

Der Praxistest auf der Nassfläche mit unterschiedlichen Fahrbahneigenschaften unter den rechten (Asphalt) und linken Rädern (glatte Fliesen) zeigt, dass sich ein Mercedes EQE mit dieser Technik ohne große Lenkeingriffe souverän in der Spur halten lässt.

Böhm weist in diesem Zusammenhang auch auf die 2020 von Mercedes in Serie gebrachte Kombination aus Bremsregelsystem und Hinterachslenkung hin: „Dieser neuartige Ansatz in der Regelungstechnik ermöglicht die aktive Darstellung des gewünschten Fahrverhaltens im Normalbereich und die Stabilisierung des Fahrzeugs im Grenzbereich.“ Und weil die Spezialisten hier großes Zukunftspotential sehen, will Mercedes die Software für die Bremsregelsysteme mehr und mehr selbst entwickeln.

Foto: Pixabay, Mercedes-Benz

 

 

Wolfgang Schaeffer