Mit dem Strom

Der Paradigmenwechsel in der Antriebstechnik beschleunigt Chinas Aufstieg in der Automobilindustrie. Zum Beispiel Geely.

Es gibt in diesen Zeiten viele Geschichten aus dem Reich der Mitte. Nicht alle sind leicht zu verstehen. China ist dem Westen über die Jahrhunderte hinweg fremd geblieben. Große Kultur, eigene Zentrierung, schiere Größe. Und seit 70 Jahren ein politisches System, das keine Fragen stellt, sondern Antworten gibt. Was die Partei sagt, ist alternativlos in Peking und in den Provinzen. Man müsse gegen den Strom schwimmen, um an die Quelle zu kommen, sagte Konfuzius, aber das ist 2500 Jahre her.

Brachial, gigantisch, gewaltig

Heute gibt es in China nur eine Richtung: mit dem Strom. Für den Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtsekiang zum Beispiel wurden vor einigen Jahren 1,3 Millionen Menschen umgesiedelt, 13 Städte und 1350 Dörfer ruhen seitdem auf dem Grund des Stausees – brachialer Preis für ein Wasserkraftwerk, das mit einer Nennleistung von 22,5 Gigawatt im Wortsinn Energie im Überfluss produziert.

China greift nach der Vorherrschaft. Das riesige Land mit seinem gigantischen Binnenmarkt hat ein gewaltiges Entwicklungspotential: 1,4 Milliarden Menschen auf  9,6 Millionen Quadratkilometern Fläche. Zum Vergleich: In Europa – nicht zu verwechseln mit der EU – leben auf einer Fläche von 10,5 Millionen Quadratkilometern rund 700 Millionen Menschen, und die USA verteilen auf 9,8 Millionen Quadratkilometern 330 Millionen Amerikaner.

Masse und Klasse

Doch es sind nicht nur die schieren Zahlen, die von Chinas Größe künden. Klar ist auch, dass Masse die Klasse fördert. Wer vorwärts kommen will  im Riesenreich der Superlative, muss sich gegen ein gigantisches Konkurrenzheer behaupten. Der Kampf um den Aufstieg ist gnadenlos, Chinas Jugend ist gut ausgebildet und ehrgeizig. Und hart. Die jahrzehntelange Ein-Kind-Politik der Regierung hat hunderte Millionen Einzelkinder zu Einzelkämpfern gemacht.

Die Zahlen sind Fakten.

Und China gibt Gas. Ein flüchtige Blick auf die Autoindustrie zeigt die Entwicklung.

Die Zhejiang Geely Holding Group

Zum Beispiel Geely. „Die Zhejiang Geely Holding Group (ZGH) ist ein globaler Automobilkonzern, der mehrerer bekannte internationale Automobilmarken besitzt und dessen Aktivitäten die gesamte automobile Wertschöpfungskette von Forschung, Entwicklung und Design bis hin zu Produktion, Vertrieb und Service umfassen.“ So nüchtern beschreibt die Selbstauskunft des Konzerns den Status quo. Der heute 56-jährige Li Shufu gründete die Geely Holding 1986 und stieg 1997 ins Automobilgeschäft ein, also vor etwas mehr als 20 Jahren. Die Gruppe umfasst heute die Geschäftsbereiche Geely Auto Group, Volvo Car Group und Geely Commercial Vehicles Company. Die chinesischen Marken Geely, Lynk und Yuan Cheng gehören zur ZGH, ebenso Proton aus Malaysia und die europäischen Marken-Ikonen Volvo und Lotus. Nicht zu vergessen das Flugtaxi-Startup Terrafugia in Massachusetts/USA.

Und natürlich setzt der Konzern auf die Elektrifizierung. Polestar (unten) tritt im Premiumsegment gegen Tesla an, und die London Electric Vehicle Company (LEVC) setzt leichte Nutzfahrzeuge unter Strom – neben den legendären Black Cab Taxis künftig auch Lieferwagen.

Smart-Joint-Venture

Li Shufu lässt seine Geely Holding marschieren. Das Joint Venture mit Daimler bringt die Mercedes-Kultmarke Smart jetzt unter ein gemeinsames Dach. Das Gemeinschaftsunternehmen firmiert als „smart automobile Co., Ltd“, die beiden Konzerne fungieren als gleichberechtigte Partner. Startkapital umgerechnet jeweils rund 350 Millionen Euro.

Der Deal hat zwei Aspekte. Erstens räumt die Weltmarke Daimler damit ihr partielles Scheitern ein. Alleine ist man offensichtlich nicht in der Lage, dem Sorgenkind Smart eine profitable Zukunft zu garantieren. Und zweitens signalisiert Geely Augenhöhe mit dem Branchen-Adel. Nach der Übernahme der schwedischen Traditionsmarke Volvo will man Daimler jetzt zeigen, wie mit Smart Geld zu verdienen ist. Mit allen Konsequenzen für die Arbeitsolätze in Deutschland (Verwaltung) und Frankreich (Produktion). Sitz der Firma ist künftig die Stadt Ningbo Hangzhou Bay südlich von Shanghai, nach einem Produktionsstandort wird noch gesucht – natürlich ebenfalls in China.

Klar ist: Die Marke Smart bleibt vollelektrisch. Und wird die Produktpalette „in das wachstumsstarke B-Segment erweitern“, wie es in einer Pressemitteilung des Unternehmens heißt. „Das Joint Venture wird die nächste Generation von emissionsfreien Smart-Elektrofahrzeugen auf den chinesischen und globalen Markt bringen“, sagt Daimler-Chef Ola Källenius. Und Geely-Chef Li Shufu präzisiert die Arbeitsteilung: Sein Unternehmen werde „die Marke Smart in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Fertigung und Supply Chain“ unterstützen „und ihre Entwicklung in China und weltweit stärken“.

Die Geely Holding hat in wenigen Jahren schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt. 2018 konnte man mit rund 120.000 Mitarbeitern 2,15 Millionen Fahrzeuge absetzen, das Unternehmen wird seit sieben Jahren im Fortune-500-Ranking gelistet. Und Li Shufu ist nicht nur Unternehmer, sondern auch Investor: Knapp zehn Prozent der Daimler-Anteilscheine befinden sich in seinem Depot.

Japan, Korea, China

Volvo, Polestar, Smart, die London Taxis, Lotus, das Zehntel von Daimler – die Geely Holding bearbeitet vom Fundament des gigantischen Binnenmarkts China aus an die globale Entwicklung.

Der Weg für die chinesischen Newcomer zu europäischer Spitzenqualität sei noch weit, beten die Experten und Analysten ihr Mantra vom Technologievorsprung des Westens. Man kennt das Argument. Vor 50 Jahren belächelten die Platzhirsche die Japaner, vor 30 Jahren die Koreaner. Die Ergebnisse sind bekannt. Toyota führt das globale Autohersteller-Ranking mittlerweile seit vielen Jahren an, Hyundai (mit Kia) belegt momentan Rang vier. Nicht zu vergessen: Die Asiaten sind Trendsetter bei den Antriebsalternativen Hybrid, Elektro und Brennstoffzelle. Die Geely Holding baut unterdessen in Raunheim bei Frankfurt ein europäisches Entwicklungszentrum auf. Ingenieure, Entwickler, Designer, Experten sollen vor allem bei den deutschen Wettbewerbern abgeworben werden.

Unser Aufmacherbild Daimler-Verwaltungsgebäude in Stuttgart-Möhringen. Die chinesische Geely Holding hält knapp zehn Prozent der Anteilsscheine des deutschen Traditionskonzerns. Fotos: motorfuture, Polestar, Mercedes-Benz

Oskar Weber