Nahverkehr als „Daseinsvorsorge“

Mobilität ist Lebensqualität. Doch während der Individualverkehr zunehmend an die Kapazitätsgrenzen des Straßennetzes stößt, ist der Öffentliche Personenverkehr traditionell im Zielkonflikt Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit gefangen. Serie, Teil 1.

Während der Staat im rechtsphilosophischen Sinne  gegenüber dem Bürger von Anfang an als übergeordnete Behörde mit einer sogenannten „Eingriffsverwaltung“ auftrat, wird seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer deutlicher hervorgehoben, dass er eine weitaus wichtigere Aufgabe mit seiner neu entdeckten „Leistungsverwaltung“ hat: die der Daseinsvorsorge, auf die der Bürger einen Anspruch hat. Dazu gehören unter anderem die Grundversorgung mit Strom, Gas und Wasser, die Krankenversorgung, die Müllbeseitigung, der Brandschutz und auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV). Für Letzteren sind nach dem Personenbeförderungsgesetz die Länder zuständig. Die Aufgabe selbst wird durch die Landkreise und die kreisfreien Städte ausgeführt.

Dieser ÖPNV finanziert sich aus Fahrgeld, Einnahmen der Verkehrsunternehmen (VU), aus Vermietung und Werbung sowie Ausgleichszahlungen. Die Unternehmen müssen wirtschaftlich handeln, egal ob privat oder staatlich betrieben. Ihr Ziel ist Gewinnerzielung.

600 Millionen Euro Zuschuss in Berlin, 230 Millionen Euro in Hamburg

Ohne Zuschüsse der öffentlichen Hand wäre kein umfassender Nahverkehr zu leisten. Entweder wäre er für viele Bürger zu teuer, oder er wäre in der Fläche und am Stadtrand zu wenig nachgefragt. Umfassende Mobilität muss aber jedermann zur Verfügung stehen. Das Land Berlin beispielsweise zahlt im Jahr rund 600 Millionen Euro an die VU, ohne Ausgleichszahlungen für Behinderte, Schüler, Azubi und Sozialtickets sowie Investitionszuschüsse. Das sind rund 50 Prozent der anfallenden Kosten.

Hamburg zahlt für S- und U-Bahn, Busse und Fähren, StadtRAD und das On-Demand-Angebot ioki (Bedarfsverkehr mit Elektrofahrzeugen) bei einem deutlich höheren Deckungsgrad als Berlin rund 230 Millionen Euro.

Regionalisierungsgesetz

Im Zusammenhang mit der Bahnreform Mitte der 90er Jahre wurde das Regionalisierungsgesetz (RegG) beschlossen. Das RegG sollte die Zusammenführung von Planung, Organisation und Finanzierung des gesamten ÖPNV bewirken. Es beschreibt die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im ÖPNV, insbesondere auch im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) als Daseinsvorsorgeaufgabe der Länder. Das heißt: Busse und Bahnen sollen auch dorthin fahren, wo es sich unternehmerisch eigentlich nicht lohnt. Und: Die Preisgestaltung muss einheitlich und sozialverträglich sein.

8,2 Milliarden Euro Bundeszuschuss

Der Bund zahlt dafür zurzeit jährlich 8,2 Milliarden Euro, die dann in erheblichem Umfang über die Länder an die Verkehrsunternehmen weitergeleitet werden; der überwiegende Teil für Schienen- und Busverkehr, ein kleinerer Teil jeweils für Investitionen in Fahrzeuge, Verkehrsanlagen und Tarifausgleiche. Allein Bayern erhält rund eine Milliarde Euro aus dem Bundestopf.

Neben dem Regionalisierungsgesetz schaffte das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) die Voraussetzungen für eine Mitfinanzierung des Bundes. Ein Teil dieser Gemeinschaftsaufgabe läuft Ende des Jahres aus. Die Mittel (1,34 Milliarden Euro) müssen dann wieder aus den Länderhaushalten aufgebracht werden.

Für große, über 50 Millionen Euro teure Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen (z.B. Straßenbahnen) im kommunalen Bereich gibt es weiterhin ein GVFG-Bundesprogramm. Das Gesetz befindet sich auf Wunsch der Grünen zur Zeit wieder einmal in der Beratung des Bundestages – die kleinste Oppositionspartei verlangt vom Bund die Mitfinanzierung von Radwegen und Straßenbahnen ohne eigene Trasse. In der gegenwärtigen Fassung kann das Bundesprogramm beispielsweise besondere Fahrspuren für Busse, Zubringerstraßen zum überörtlichen Verkehrsnetz, Umsteigeparkplätze, zentrale Omnibusbahnhöfe, Kreuzungsmaßnahmen nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz und weitere Großmaßnahmen unterstützen.

 

Morgen in Teil 2: ÖPNV – was ist das eigentlich?

Unser Bild: Betriebshof der Schöneicher-Rüdersdorfer Straßenbahn GmbH (SRS), die dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) angeschlossen ist.  Foto: motorfuture

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

Dietrich Austermann