Recht vor Gnade

Die missglückte Reform der Straßenverkehrsordnung wirft zahlreiche Fragen auf. Vor allem: Können mit Fahrverboten belegte Temposünder „begnadigt“ werden? Ein Überblick.

Vor wenigen Tagen hat eine schleswig-holsteinische Zeitung mit der Meldung aufgemacht, der Verkehrsminister des Landes würde wegen der Fehler beim Erlass der Straßenverkehrsreform gnadenweise auf die ausgesprochenen Fahrverbote verzichten. Der juristisch unbedarfte Leser hört von Begnadigungen sonst nur bei Urteilen in autoritären Staaten, für ehemalige Terroristen oder bei Urteilen, die aus politischen Konflikten resultieren. In Deutschland kommen Begnadigungen eher selten vor.

Träger des Begnadigungsrechts ist der Bundespräsident. In Landesfällen ist der Ministerpräsident zuständig, der das Begnadigungsrecht auf einen Minister oder eine Ministerin übertragen kann. Landesfälle sind zum Beispiel alle Straf-, Bußgeld- oder Ordnungsmittelsachen.

Konnte also der schleswig-holsteinische Verkehrsminister begnadigen?

Nein! Denn vom Gnadenrecht kann nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung Gebrauch gemacht werden. Und die sieht in der vorliegenden Situation anders aus. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hatte eine Verordnung entworfen, die verschiedene Regelungen zur Steigerung der Verkehrssicherheit enthielten (Rettungsgasse bilden, Rechtsabbiegerpflichten, Fahrradzonen einrichten). Rechtsverordnungen werden nicht vom Gesetzgeber, sondern von der Exekutive auf der Grundlage eines vom Parlament beschlossenen Gesetzes erlassen. Die Voraussetzungen dafür regelt Artikel 80 des Grundgesetzes. Er legt fest, dass in den Fällen, in denen die Länder Bundesgesetze ausführen, der Bundesrat der Verordnung (VO) zustimmen muss. Bezogen auf den Straßenverkehr ist dies zum Beispiel in § 6 StVG geregelt.

Der Bundesrat hat davon Gebrauch gemacht, indem er Mitte Februar dem Verordnungsentwurf des Bundesverkehrsministers eine Reihe von Änderungsvorschlägen zufügte, die eine Verschärfung der Ahndung bei Geschwindigkeitsüberschreitungen enthielten. Scheuer akzeptierte die Nachbesserungen und brachte die überarbeitete Novelle ins Gesetzblatt, sodass sie am 28. April in Kraft treten konnte. Zunächst gab es auf breiter Ebene Zustimmung, zum Beispiel vom ADAC.

Als einer der ersten monierte aber ausgerechnet Scheuer wenig später selbst, dass ja nun relativ rasch bei zu schnellem Fahren der Führerschein entzogen werden könne. Viele Bürger begehrten aus dem gleichen Grund auf. Und dann stellte sich heraus, dass bei allem Eifer, den Verkehr sicherer zu machen, die Verordnung einen entscheidenden Fehler enthielt: Ihr fehlte bezüglich der Regelfahrverbote der Verweis auf das zugrundeliegende Gesetz. Artikel 80 Absatz 1, Satz 3 GG schreibt vor, dass die gesetzliche Grundlage (also hier § 26 a StVG) in der VO angegeben werden muss (Zitiergebot).

Spekulationen führen nicht weiter

Nun könnte man über die Hintergründe des Versäumnisses spekulieren. Spötter behaupten, der Fauxpas sei gar kein amtliches Versehen, sondern habe das Ziel gehabt, über den Umweg der rechtswidrigen Verordnung die geplante Verschärfung zu verhindern. Immerhin gibt es mit der „Schilderwaldnovelle“ 2010 einen Präzedenzfall.

So oder so, für den Bundesrat und das Bundesverkehrsministerium ist der Vorgang kein Beweis sorgfältigen Arbeitens, und die VO ist verfassungswidrig und damit nichtig, zumindest soweit die neuen Regelfahrverbote eingeführt werden. Regelfahrverbote durften und dürfen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts von 21 – 30 km/h und außerorts von 26 – 40 km/h also zunächst einmal nicht verhängt werden. Wenn die VO nichtig ist, sind nach unserem Recht die Verwaltungsakte (VA), also die Ausführungsentscheidungen der Verkehrsbehörden, nicht automatisch ebenfalls nichtig, also von Anfang an unwirksam und nicht zu beachten. Hier hat der Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang, es sei denn der Fehler des VA ist sehr schwerwiegend.

Rechtswidrige Verwaltungsakte

Was passiert nun mit den fehlerhaften Verwaltungsakten? § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz bestimmt: Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückgenommen werden.

Solange dies nicht geschieht, können Betroffene aber reagieren. Betroffene des Bußgeldverfahrens, die angehört werden, können eine Anwendung des alten Bußgeldkataloges verlangen (er sieht kein Fahrverbot vor). Nach Erlass des Bescheides, aber vor dessen Rechtskraft, kann innerhalb der 14-Tage-Frist Einspruch erhoben werden, bei dem die Behörde die alte Rechtslage zu beachten hat. Bei inzwischen rechtskräftigem Fahrverbot sollte dessen Aufhebung und gegebenenfalls umgehender Vollstreckungsaufschub verlangt werden.

Aus der Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes zu rechtswidrigen Verwaltungsakten muss in einem demokratischen Rechtsstaat die Verpflichtung entnommen werden, dass die Behörde die Folgen rechtswidriger Bescheide beseitigt, diese also zurücknimmt. Wenn dies nicht geschieht, muss der zuständige Minister die Behörde anweisen. Wenn er stattdessen einen flächendeckenden „Gnadenerlass“ ausspricht (vielleicht weil er im Bundesrat das Regelfahrverbot gefordert hat), ist dies zwar für die Betroffenen hilfreich, dem Glauben an der Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung dient es nicht unbedingt. Denn hier müsste Recht vor Gnade gehen.

Neues Verfahren, neue Verordnung

Eine neue, rechtsverbindliche Verordnung verlangt nach einem neuen Verfahren. Bundesverkehrsminister Scheuer muss jetzt eine geänderte VO entwerfen und dem Bundesrat vorlegen. Da er aber inzwischen – oder immer noch – gegen das automatische Regelfahrverbot bei den zuletzt niedriger angesetzten Geschwindigkeitsüberschreitungen (innerorts mehr als 21 km/h, außerorts mehr als 26 km/h) ist, wird er zunächst einmal Versuche unternehmen, sich mit den Ländern beziehungsweise den Verkehrsministern der Länder auf neue Tempo-Richtwerte zu verständigen.

Alternativ bleibt ihm die Möglichkeit, eine unabgestimmte Fassung vorzulegen – mit dem Risiko, dass diese Fassung im Bundesrat abgelehnt wird.

Sobald der Bundesrat zugestimmt hat, wird der Bundesverkehrsminister den geänderten Text billigen und ins Gesetzblatt bringen. Bis das passiert, gilt die alte Fassung der VO (also nicht mehr die vom 28.4.20.)

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

Foto: motorfuture

Dietrich Austermann