Stadler hinter Gittern: Überzieht die Justiz?

Die Betrüger hängt man, die Gewalttäter lässt man laufen? Diese Frage stellt sich dem juristischen Laien in diesen Tagen immer wieder. Eine Bestandsaufnahme.

 Der Rechtsstaat ächzt unter seinen Prinzipien. Fast täglich gibt es Berichte, dass Straßenschläger und andere Gewalttäter nach ersten Vernehmungen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Währenddessen werden mutmaßliche Wirtschaftskriminelle gnadenlos eingebuchtet: Im Zuge des Dieselskandals erwischte es erst den Porsche-Vorstand Wolfgang Hatz – er ist mittlerweile gegen strikte Auflagen wieder frei -, jetzt sitzt Audi-Chef Rupert Stadler in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Verdunkelungsgefahr vor. Misst die Justiz mit zweierlei Maß?

Seit Jahrhunderten umstritten

Der Sinn staatlichen Strafens ist seit Jahrhunderten umstritten. Das deutsche Strafgesetzbuch von 1871 war geprägt vom Vergeltungs-und Abschreckungscharakter. Im Zuge strafrechtlicher Reformbewegungen setzte sich bis heute der Erziehungs- und Sicherungszweck durch.

Aufgabe des Strafrechts wurde immer mehr, bei der Sanktionierung von Gesetzesbrechern das nachzuholen, was die Sozialpolitik versäumt hat. Neben die Prävention, also dem Versuch, künftige Straftaten zu verhindern, soll die Resozialisierung treten und im Falle, dass dies nicht gelingt, die Abschreckung und das Unschädlichmachen. Unverändert bestimmt sich die Höhe der Strafe nach der Schwere der Tat, bei der konkreten Strafzumessung soll die Gefährlichkeit des Täters entscheidend sein.

Bei der Strafandrohung gab es auch in der Vergangenheit lebhafte Diskussionen darüber, was stärker bei der Verletzung des Rechts durch den Täter zu würdigen ist: Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit oder der Eintritt eines Vermögensschadens. Das alte Strafgesetzbuch wurde inzwischen 56 Mal geändert, zuletzt 2017, als es die Veranstaltung von privaten Autorennen unter Strafe stellte. Die 6. Änderung 1997 bemühte sich darum, Rechtsgütern wie Leben, körperlicher Unversehrtheit, Freiheit und sexueller Selbstbestimmung gegenüber materiellen Rechtsgütern wie Eigentum, Vermögen und Sicherheit des Rechtsverkehrs wieder ein größeres Gewicht zu verleihen.

„Sozialschädlichkeit“ schlimmer als Raub und Vergewaltigung?

Bei der Verhaftung des Audi-Chefs Rupert Stadler und weiterer Automanager (inzwischen sitzen oder saßen fünf hinter Gittern, gegen Dutzende wird ermittelt) hat mancher Bürger den Eindruck, Wirtschaftsvergehen durch Auto-Manager hätten bei Justitia eine größere Aufmerksamkeit als Straftaten gegen Leib und Leben. „Sozialschädlichkeit“, Betrug und Untreue, würden stärker geahndet als Raub und Vergewaltigung.

Immerhin wird Betrug mit bis zu fünf Jahren, in besonders schweren Fällen („eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen“) bis zu zehn Jahren bestraft, schwerer Raub mit mindestens drei, höchstens 15 Jahren.

Nur in streng begrenzten Ausnahmefällen

Die Frage, ob ein Richter wegen Beteiligung eines Managers an einer vermutlichen Produktmanipulation dessen Verhaftung anordnen kann, beantwortet sich durch die Strafprozessordnung: Die Inhaftierung eines Beschuldigten darf nur in streng begrenzten Ausnahmefällen angeordnet werden. Es muss zwischen dem Freiheitsanspruch des noch als unschuldig geltenden Beschuldigten und dem Erfordernis  einer wirksamen Strafverfolgung abgewogen werden. Nach § 112 StPO (Strafprozessordnung) ist der Richter zum Erlass eines Haftbefehls ermächtigt, also nicht gezwungen. In der Regel wird er einen Haftbefehl, dessen Voraussetzungen vorliegen, aber auch erlassen. Er muss den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Eine Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit muss erstellt werden. Nach Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts ist Zweck der Untersuchungshaft ausschließlich die Durchsetzung des Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters. Sie darf nicht dazu missbraucht werden, das Aussageverhalten des Beschuldigten zu beeinflussen.

Zu den Voraussetzungen gehören ein der Tat dringend verdächtigter Beschuldigter, eine Tat mit einer erwartbar höheren Strafe und ein Haftgrund. Zu den Haftgründen zählen Flucht, Flucht- oder Verdunklungsgefahr und, bei besonders schweren Taten, zu denen schwere, Körperverletzung, Raub, aber auch Betrug gehören, eine Wiederholungsgefahr.

Die Verhaftung darf nur erfolgen, wenn und soweit die vollständige Aufklärung der Tat oder die rasche Durchführung nicht anders gesichert werden kann.

Der Fall Stadler

Im Fall Stadler soll der Audi-Chef seit Beginn der Dieselaffäre aus den eigenen Reihen Hinweise erhalten haben, nach denen auch bei Fahrzeugen der Marke Audi manipulierte Abgassysteme verarbeitet und verkauft worden sind. Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte Telefonate abgehört und stellte bei einer Razzia viele Unterlagen sicher. Sie befürchtete aufgrund konkreter Anhaltspunkte, die sich dabei wohl ergeben hatten, der Beschuldigte würde Zeugen oder weitere Beschuldigte im Abgasskandal beeinflussen (Verdunkelungsgefahr).

Wolfgang Hatz, der ehemalige Porsche-Technikvorstand und frühere Chef der Audi-Motorenentwicklung, der seit September 2017 in Untersuchungshaft saß, ist vor kurzem gegen eine Kaution von drei Millionen Euro und Abgabe seiner Personalpapiere aus der Haft entlassen worden. Ihm wurde untersagt, Kontakt zu Mitbeschuldigten und Zeugen in der Abgasaffäre aufzunehmen und das Land zu verlassen. Wegen der Verhaftung hatte er sich zuvor an das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung gewendet, das OLG München habe seine Beschwerdeeinwendungen gegen die Haft nicht genügend geprüft, ihm also rechtliches Gehör verweigert.

Berichte über die Verhaftung von Automanagern wurden im Netz sehr einmütig kommentiert: Jeder Käufer habe gewusst, dass Verbrauchs- und Abgaswerte in Prospekten nur Ungefähr-Angaben seien, Schäden seien nicht entstanden, da Fahrzeuge mit korrekten Abgaseinrichtungen mehr Verbrauch bewirken würden, die Verhältnismäßigkeit zu „normalen Verbrechern“ sei nicht beachtet und man äußert sich besorgt, dass eine ganze Industrie, gar die wichtigste, geschleift werde. Anders die Medien, die zu Skandalisierung neigen.

Stadler, Hatz und Co drohen konkret Haftstrafen

Die Richter werden jetzt abzuwägen haben, ob einzelne Manager gehandelt haben „in der Absicht sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält“ und das sogar „gegenüber einer großen Zahl von Menschen“…(§ 263 StGB – Betrug).

Im Fall einer Verurteilung drohen Rupert Stadler, Wolfgang Hatz und den anderen Beschuldigten Haftstrafen – wie zuvor den wegen Steuerhinterziehung verurteilten Uli Hoeneß und Peter Graf oder dem wegen Untreue und Steuerhinterziehung verurteilten Thomas Middelhoff.

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

 

Dietrich Austermann