Der ganz normale Bahnsinn

Kommando zurück: Mit der Reaktivierung stillgelegter Strecken will die Bahn zurück in die Fläche.

Die Bahn fährt immer, hieß es vor Jahr und Tag in der Werbung. Gemeint war die Zuverlässigkeit der Schiene bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee. Nach der Wiedervereinigung fuhr im Westen die Bundesbahn und im Osten die Reichsbahn, und weil sich das neue Deutschland im Umbruch, Aufbruch, Abbruch befand, wurde die Bahn privatisiert, jedenfalls formal. Das war 1994. Die Aktiengesellschaft holte sich Unternehmensberater ins Haus, der Bund verbuchte die Verluste jetzt als Großaktionär, das Parlament verabschiedete eine Bahnreform. Die Bahn AG wurde zur Holding, neue Tochtergesellschaften kümmerten sich mit Spezialmandaten um den Fernverkehr, den Nahverkehr, den Güterverkehr, das Schienennetz und die Bahnhöfe.

500 stillgelegte Strecken seit 1994

Gut für die Bahnchefs. Sie verdienten jetzt wie Kollegen in der freien Wirtschaft, auch wenn die geplanten Börsengänge der Holding und der Töchter auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurden.

Schlecht für die Bahnkunden im ländlichen Raum. Mit der Regionalisierung wurden viele hochdefizitäre Strecken in der Fläche kurzerhand stillgelegt.

Das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) liefert die folgende Übersicht, gelistet nach Bundesländern und Streckenlängen:

Stillgelegte Strecken seit dem 01.01.1994
Land Anzahl stillgelegter Strecken Länge stillgelegter Strecken
Baden-Württemberg 28 218,3 Kilometer
Bayern 59 533,0 Kilometer
Berlin 1 1,9 Kilometer
Brandenburg 48 539,2 Kilometer
Hessen 29 284,0 Kilometer
Mecklenburg-Vorpommern 19 297,0 Kilometer
Niedersachsen 40 406,6 Kilometer
Nordrhein-Westfalen 74 595,7 Kilometer
Rheinland-Pfalz 33 408,1 Kilometer
Saarland 14 132,1 Kilometer
Sachsen 60 510,1 Kilometer
Sachsen-Anhalt 46 660,8 Kilometer
Schleswig-Holstein 8 94,0 Kilometer
Thüringen 41 466,9 Kilometer
               gesamt 500 5147,6 Kilometer

Ein Blick auf die Liste bringt interessante Resultate:

  • Die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sind vom Schienenkahlschlag überhaupt nicht betroffen.
  • Die Metropole Berlin steuert gerade mal 0,4 Promille zum Gesamtergebnis bei (1 stillgelegter Streckenabschnitt mit 1,9 Kilometer Länge).
  • Das Mini-Flächenland Saarland verliert mit 14 stillgelegten Strecken 132,1 Kilometer Schiene.
  • Das Berliner Umland-Land Brandenburg ist mit 48 stillgelegten Strecken und einer Gesamtlänge von 539,2 Kilometern dabei.
  • Und Sachsen-Anhalt kommt mit 46 stillgelegten Bahnstrecken auf einen Gesamtverlust von 660,8 Kilometer Schiene.
Menschen für die umweltfreundliche Schiene gewinnen

Das sind die Fakten. Privatisierung als Politikmodell, Kostenrechnung vor Daseinsvorsorge.

Interessant, dass die Klimadebatte die guten alten Kostenargumente allesamt für obsolet erklärt. Der gute Zweck heiligt plötzlich jedes Mittel. Eine neue Weichenstellung ist angesagt.

Kommando zurück heißt es deshalb bei der Deutschen Bahn. „Mit der Reaktivierung stillgelegter Strecken und der Wiederaufnahme von Personen- oder Güterverkehr kommt die Bahn zurück in die Fläche!“ So steht es in einer aktuellen Pressemitteilung der Deutschen Bahn. Ziel der Bahn, der Branchenverbände und Aufgabenträger sei es nämlich, „immer mehr Menschen für die umweltfreundliche Schiene zu gewinnen.“ Denn jeder Kilometer Gleis helfe doch, „das Angebot für Reisende zu vergrößern“. Und klar ist für die bundeseigene Bahn auch: „So entstehen bessere Verbindungen in weniger gut erschlossene Regionen und die Schiene wird auch dort zum attraktiven Verkehrsmittel.“

Kein Widerspruch.

Reaktivierung von 20 Strecken

Konkret will die DB in einem ersten Schritt gemeinsam mit den Ländern und den sogenannten Aufgabenträgern zunächst die Reaktivierung von 20 Strecken angehen. Bei diesen Strecken, heißt es in der Bahn-Mitteilung, „sind bereits wichtige Meilensteine erreicht“, wenn auch in unterschiedlichen Phasen der Umsetzung. Zusätzlich sollen in den kommenden Jahren weitere Strecken und Verbindungen reaktiviert werden. DB Netz-Vorstand Jens Bergmann: Wir wollen mehr Menschen für die Bahn gewinnen, mehr Güter auf die Schiene bringen. Jeder Kilometer Gleis ist aktiver Klimaschutz.“

Zwischen einer und zehn Millionen Euro

Eine von der DB eingerichtete Taskforce hat sich nach Unternehmensangaben „zunächst ein umfassendes Bild über die in der Vergangenheit stillgelegten Strecken gemacht“. Dafür wurden insgesamt 346 Strecken bewertet, darunter auch die 240 Vorschläge der Branchenverbände Allianz pro Schiene und Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Ergebnis: Ein Großteil der potenziellen Strecken ist nicht im Eigentum der DB. Ein weiterer Anteil der Strecken ist verpachtet oder „hat auf absehbare Zeit kein verkehrliches Potenzial“.

Bleibt unter dem Strich ein Streckenpotenzial von rund 1300 Kilometer Länge, das „mit einem wirklichen Nutzen für den klimafreundlichen Schienenverkehr in Deutschland reaktiviert werden“ könnte. Kostenpunkt: je nach Planungs- und Umsetzungsaufwand zwischen einer Million Euro und zehn Millionen Euro pro Kilometer.

Die nächsten Schritte

Wo auf neuen alten Strecken Züge rollen sollen, warten aber zunächst Bürokraten. Die Bahn-Spezialisten beschreiben das Szenario so:

  • Örtliche Aufgabenträger und Anliegerkommunen beauftragen eine Machbarkeitsstudie.
  • Positive Ergebnisse der Machbarkeitsstudie vorausgesetzt geht es weiter mit den ersten Planungsschritten einschließlich einer Kosten-Nutzen-Analyse (erfolgt im Auftrag der Länder).
  • Erstellung der planrechtlichen Grundlagen und Klärung der Finanzierungsdetails.
  • Alles klar? Dann folgen auf die Planung die Umsetzung und der Bau.

Es kann also noch ein bisschen dauern, bis die Züge wieder fahren.

 

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Foto: Pixabay

Oskar Weber