Die Zukunft der Stadt (3): Die Ausgangssituation

Autonomes Fahren, Verkehrswende, neue Mobilität: Das Forschungsprojekt AVENUE21 (TU Wien) skizziert konkrete Szenarien für die Zukunft der Stadt. Wir fassen die Wiener Ergebnisse in einer kleinen Serie zusammen. Folge 3: Die Ausgangssituation.

Die moderne Gesellschaft befindet sich in einem umfassenden Wandel durch

  • eine zunehmende Dynamik der Globalisierung,
  • die zunehmende Digitalisierung und vielfältige technologische Entwicklungen,
  • lokale Umweltbelastung im Verkehrsbereich,
  • eine Verschiebung der Bevölkerungsdynamik in die großstädtische Agglomeration

sowie

  • die stärkere Beteiligung neuer Akteure bei der Planung.

Besonders in Großstädten werden gute Voraussetzungen gesehen, die Mobilitätswende produktiv mitzugestalten. Das Vermeiden von Fahrten und das Verlagern von der Automobilität hin zu autofreier Multimodalität könnten die Lebens- und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum substanziell verbessern.

Die europäische Stadt

Die AVENUE21-Autoren schätzen mit ihrer Untersuchung ab, wie sich die „europäischen Städte“ infolge einer Fülle sich abzeichnender Trends entwickeln werden. Sie gehen von einem gesellschaftlichen Wandel aus, der Folgen auf die Urbanisierung haben wird. Sie unterstellen mittel- und langfristig erhebliche demografische, ökonomische, ökologische, soziale und technologische Veränderungen.

Maßgebliche Treiber dieser Entwicklung sind

  • der Wandel der Arbeitswelt,
  • Klimawandel und Energiewende,
  • Individualisierung, kulturelle Vielfalt und soziale Polarisierung

sowie

  • die Technikbereiche Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Alternative Antriebe.

Diese Trends hätten auch Auswirkungen auf die politisch-planerischen Leitbilder der europäischen Städte. Nach der Zerstörung vieler Städte müsse die behutsame Stadterneuerung mit den Entscheidungen zum automatisierten Verkehr (avV) in Einklang gebracht werden.

Nachhaltige Alternativen zum privaten PKW

Die neue Mobilität stellen sich die Wiener Forscher als ein Dienstleistungsangebot vor (Mobility as a Service, MaaS), in dem sämtliche Mobilitätsanbieter kooperieren. Chancen sehen sie in der Schaffung wettbewerbsfähiger, nachhaltiger Alternativen zum privaten PKW. Risiken werden wegen der Digitalisierung im Ausschluss nicht technikaffiner Personen gesehen. Und als größtes Hindernis wird die bisher fehlende Verankerung in öffentlichen Strategieplänen benannt.

Fluch und Segen der Digitalisierung

In umfangreichen Befragungen von Experten aus dem Bereich Stadtentwicklung, Mobilitätsplanung und Technologieentwicklung wurde ermittelt, mit welchen Anwendungen von automatisierten Fahrzeugen sie Erfahrungen gemacht haben und von welchen sie einen positiven Beitrag im Hinblick auf ihre berufliche Tätigkeit erwarten. Überwiegend wurde vermutet, dass neue Lösungen im Logistikbereich entstehen, die Verkehrssicherheit verbessert werden kann, intermodale Angebote durch ‚Service auf der letzten Meile‘ im Personenverkehr gestärkt, öffentliche Verkehrsnetze kostengünstiger und das Mobilitätssystem dekarbonisiert werden. Dem positiven Wert der Sammlung großer Datenmengen durch Digitalisierung stehen die Befürchtungen gegenüber, dass große Datenmengen von Dritten genutzt, zur Überwachung eingesetzt und der Verkehr durch Hacking zu einem Sicherheitsrisiko werde. Produktion und Lieferketten würden sich vollkommen wandeln.

Die Experten fordern deshalb von den Städten die Erstellung verbindlicher Regelwerke und Verhaltenskodizes für neue Mobilitätsdienstleister. Die räumlichen Einsatzgebiete sollten begrenzt werden (weil sonst eine Zersiedelung der Landschaft befürchtet wird) und die Straßen oder Fahrstreifen sollten avV-tauglich werden. Die erstrebenswerten Ziele: weniger Umweltbelastung, weniger Verkehrsunfälle, „kompakte“ Städteplanungen und die Sicherstellung sozial-inklusiver Mobilitätsangebote.

Drei Städte als Muster

Um beispielhaft die Möglichkeiten der „Europäischen Stadt“ aufzuzeigen, wurden drei Referenzregionen (London, Randstad und Wien) ausgewählt, in denen sich die siedlungsstrukturellen Voraussetzungen erheblich unterscheiden. Im Detail untersucht wurden die jeweiligen Anpassungen an das Verkehrswachstum, die Verkehrsverlagerungen sowie mögliche Auswirkungen auf die Lebensqualität.

Unter anderem wurde in der Mobilitätsplanung in London die Verkehrserschließung von Entlastungsstädten und die Dezentralisierung der Region hin zur Polyzentralität untersucht.

In der niederländischen Metropolregion Randstad lag das Augenmerk auf Inter- und Multimodalität (mit hohem Anteil an Radverkehr). Die Niederlande werden in diversen Rankings im Spitzenfeld der Test- und Entwicklungsumgebungen für automatisierten Verkehr weltweit gesehen.

London setzt unter anderem auf Verkehrserschließung durch automatisierte und vernetzte Fahrzeuge im Quartier und auf „Connected Corridors“. In einer jener vollkommen auf Individualität ausgerichteten New Towns ist man fest entschlossen, auf automatisierten Verkehr zu setzen. Personalisierte Transportmittel wie beispielsweise automatisierte Shuttlefahrzeuge werden gegenüber einer ursprünglich geplanten Straßenbahn favorisiert.

Wien betont die Stärke des öffentlichen Verkehrs und die Verflechtungen mit dem Umland. Der Öffentliche Personenverkehr wird als Rückgrat des Mobilitätssystems betrachtet. Zur Erprobung in Stadtrand und suburbanen Gebieten verkehren seit 2019 automatisierte Shuttles im Testbetrieb.

Alle drei Städte haben die gleichen Ziele. Die Stadtgestaltung wird mit dem avV nicht neu definiert. Sie bettet sich in die historisch gewachsenen Entwicklungsziele ein.

 

Demnächst hier bei motorfuture: Die Zukunft der Stadt, Folge 4: Automatisierter und vernetzter Verkehr im langen Level 4.

Unser Aufmacherbild: Mobilität im Wiener Prater. Foto: Pixabay

 

Mehr zum Thema

Die Zukunft der Stadt, Folge 1: Das Projekt

Die Zukunft der Stadt, Folge 2: Straßen und Quartiere

 

Die Studie: „AVENUE21. Automatisierter und vernetzter Verkehr: Entwicklungen des urbanen Europa“ ist Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsvorhabens an der Technischen Universität (TU) Wien, gefördert von der Daimler und Benz Stiftung. Anhand ausgewählter Städte und Ballungsgebiete wurde untersucht, welche Szenarien für Europa zu erwarten sind und welche Entwicklungen sich bereits heute weltweit abzeichnen.

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

 

Dietrich Austermann