Rotkäppchen und der böse Golf

…oder die Geschichte vom Hasen und vom Igel. Warum auch der neue Opel Astra trotz all‘ seiner Qualitäten nur das Zeug zum zweiten Sieger hat.

Ja, in Rüsselsheim wissen sie, wie man gute Autos baut. Ja, auch der neue Opel Astra ist ein starkes Stück Automobiltechnik: sparsame und leistungsfähige Benzin- und Dieselmotoren, umfangreiche Sicherheitsausstattung, viel Platz und Komfort für Passagiere und Gepäck, routinierte Verarbeitung. Und ja, es sei an dieser Stelle erneut bestätigt: Die Marke mit dem Blitz im Allgemeinen und der neue Opel Astra im Besonderen sind definitiv wieder eine Empfehlung wert.

Doch der Reihe nach. Die offizielle Opel-Zeitrechnung platziert den Astra J als elfte Generation einer langen Kompaktwagendynastie. Das ist nicht wirklich falsch, aber es ist auch nicht wirklich richtig.

Denn erstens ist auch der neue Astra viel zu fett für ein kompaktes Automobil. Die Karosseriediät – fünf Zentimeter kürzer, zwei Zentimeter flacher, 125 Kilogramm leichter – macht das Auto im direkten Vergleich zum Vorgängermodell zwar ein wenig schlanker, aber Kompaktheit ist spätestens im Norm-Parkhaus der 70er-Jahre oder zwischen den Markierungen vor dem Supermarkt eine andere Kategorie. Im Wortsinne maßgeblicher Fakt ist: 4,37 Meter Fahrzeuglänge und 2,04 Meter Wagenbreite (inklusive Außenspiegel) ergeben bei wenigstens 1250 Kilogramm Masse eine ausgewachsene Fuhre.

Damit zu zweitens: Der Astra ist der Astra – immerhin auch schon ein reifer Modellname in der fünften Generation. Der außerordentlich erfolgreiche Kadett, auf den man sich heute wieder beruft, wurde zu Beginn der 90er-Jahre ausgemustert. Das ist rund 25 Jahre her. Das Opel-Management wollte damals nicht weiter zu einem Namen stehen, der der Marke drei Jahrzehnte lang und in ebenfalls fünf Modellgenerationen die Auftragsbücher gefüllt hatte. Heißt drittens: Vergessen wir in diesem Zu-sammenhang auch den Vorkriegs-Kadett, der heute ebenfalls als Astra-Ahn bemüht wird. Ein Auto aus einer anderen Welt und aus einer anderen Zeit, das, siehe oben, mit dem Astra noch nicht einmal den Namen teilt.

Alles nur historische Erbsenzählerei? Darauf läuft es vermutlich hinaus.

Echte Tradition hat hingegen eine Marktentwicklung, die den Opel-Händlern seit mittlerweile 40 Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Sämtliche Astra-Baureihen und die Kadett-Vorgänger der Baureihen C, D und E fahren dem wichtigsten Konkurrenten VW Golf seit dessen Markteintritt im Jahr 1974 in der Käufergunst nämlich mit wachsenden Abständen hinterher. Wesentlicher Faktor für den Mega-Erfolg des Käfer-Nachfolgers ist sicherlich die bewundernswert geradlinige und beharrliche Produkt-führung bei Volkswagen. Der Golf wurde als technisch jeweils zeitgemäße automobile Vollwertkost stilistisch so behutsam weiter entwickelt, dass er bald nicht nur stellvertretend für ein ganzes Markt-segment, die Golf-Klasse, stand. Die Golf-Züchter schafften es außerdem, ihr Auto als Ikone der Klassenlosigkeit zu positionieren. Alt, jung, sportlich, spießig, irgendwie und irgendwas – im VW Golf beweisen die unterschiedlichsten Zielgruppen, dass weniger Schein das Sein durchaus adeln kann. Auch wer es sich leisten kann und will, den Pelz auf der Straße nach innen zu tragen, ist mit einem Golf immer korrekt gekleidet. Und perfekt unterwegs sowieso. Dafür sorgen das saubere Volkswagen-Finish und das beinahe unerschöpfliche Angebot an Ausstattungen, Antrieben, Varianten und State-of-the-Art-Technik.

Die Konkurrenz? Allesamt Rotkäppchen, die mit mehr oder weniger gehaltvollen Geschenkkörben tapfer um den bösen Golf herumschleichen. Opels Astra zum Beispiel schaffte im vergangenen Jahr in Deutschland 47.000 Neuzulassungen. Absolut betrachtet gar nicht so übel. Doch der Bestseller aus Wolfsburg konterte das Ergebnis des Wettbewerbers auf dem Heimatmarkt völlig humorlos mit dem Faktor 5,5: 255.000 Neuzulassungen.

Womit wir wieder beim neuen Astra sind, der es in Zukunft ja besser machen soll.

Opel bietet neben modernen Drei- und Vierzylindermotoren (70-147 kW/95-200 PS) alle gängigen Assistenz- und Infotainment-Systeme an. Technisches Highlight ist LED-Matrix-Scheinwerfer-Technik mit automatischer Abblendfunktion (1350 Euro Aufpreis). Nach einem Elektro-Astra oder Plug-in-Hybrid-Technik sucht man aber vergebens. Im Gegenteil: Die bloße Frage nach der Antriebs-technologie der Zukunft löst bei den Opel-Leuten Reaktionen aus, als habe ein schwarzer Reiter soeben die unmittelbar bevorstehende Ankunft Luzifers verkündet.

Das verstehe, wer will. Schließlich hat Opel 2011 mit dem Ampera (und die Konzernmutter General Motors mit dem baugleichen Volt) schon Elektroauto-Geschichte geschrieben, als die VW-Bosse noch selbstherrlich auf die Effizienz ihrer Dieseltechnik verwiesen. Mag sein, dass das typische Avantgardisten-Schicksal des Ampera – die Ungnade der frühen Geburt mit bescheidener Kunden-resonanz – der Elektroeuphorie bei Opel den Saft abgedreht hat. Das aber ist schade, denn die Zeit war einfach noch nicht (ganz) reif für den Ampera mit seinem interessanten Range-Extender-Konzept, auf das beispielsweise auch der BMW i3 setzt: Der permanente E-Antrieb wird hier bei Bedarf von einem zur Stromerzeugung angedockten Verbrennungsmotor abgesichert – das spart Getriebe und Kupplung und damit eine Menge Gewicht.

Interessanter Ansatz, anspruchsvolle Vermarktung. Opel agiert beim Astra J deshalb zunächst lieber aus einer sicheren Deckung. Ergebnis ist ein konventionelles, aber gut gelungenes Auto exakt in der Mitte des Marktes: sauber gezeichnet, gut ausgestattet, nicht zu groß und nicht zu klein. Die Preise beginnen bei 17.260 Euro (plus Überführung). Dafür gibt es den 1,4-Liter-Benziner mit 100 PS. Zum Vergleich: Ein Golf dieser Leistungsklasse ist gut 2.000 Euro teurer.

Apropos: Wer im Marktumfeld des Astra schon heute partout auf Spannung setzen will, wird bei Toyota fündig, bei Nissan, bei Ford, bei Mercedes oder bei BMW. Und bei VW. Golf-Interessenten haben sogar die Qual der Wahl: Der langstreckenbegabte Plug-in-Hybrid GTE ist ebenso im Angebot wie das lupenreine Elektroauto e-Golf.

     

Oskar Weber