Steuer frei

Mercedes und BMW mit amtlichen Fortschritten beim Autonomen Fahren.

Bei der Zukunftstechnik Autonomes Fahren ist der Fortschritt eine Schnecke. Wie sollte es auch anders sein, das Verkehrsgeschehen auf öffentlichen Straßen ist extrem komplex. Künstliche Intelligenz wird ein aktiver Treiber der Entwicklung sein, die ständig wachsende Satellitendichte im Orbit mit ihren Beobachtungs- und Kommunikationstalenten ebenfalls – aber es darf dann halt nichts dazwischenkommen. Gar nichts. Ganz abgesehen davon, was es für den Menschen und sein Gesellschaftsmodell Demokratie bedeutet, wenn die Leute praktisch permanent und im Wortsinne unter Beobachtung stehen.

Schöne neue Welt? Man wird sehen

Beim Automobil ist die gesellschaftspolitische Dimension zwar um ein paar Größenordnungen heruntergestuft, umso mehr stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der sündhaft teuren Entwicklungsarbeit. Der Freude-am-Fahren-Fahrer soll zum Hände-in-den-Schoß-Leger degradiert werden, obwohl er hinterm Lenkrad sitzt. Das macht nicht wirklich Sinn in einem Massenverkehrsmittel, dessen Kernkompetenz die individuelle Steuerung ist. Es funktioniert zuverlässig ja noch nicht einmal am leergefegten Himmel in 10.000 Metern Höhe. Zugegeben, beim Jetcrash über dem Bodensee vor 21 Jahren hatte ein Fluglotse seine unglückseligen Hände im Spiel, aber wer garantiert uns denn, dass dereinst nicht finstere Gestalten die Hightech-Autopiloten auf den Autobahnen hacken?

KBA und Kalifornien

Mercedes und BMW melden jetzt immerhin neue Erfolge im Entwicklungsrennen um die Steuer-frei-Strategie. Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) und der US-Bundesstaat Kalifornien geben grünes Licht für Praxistests auf öffentlichen Straßen, die das momentan noch unerreichbare Level 4 zumindest ins Blickfeld nehmen.

Teilautomatisiert bis 130 km/h

Zunächst nach Flensburg und München. „Die BMW-Group kann als erster Automobilhersteller in Deutschland ein System für teilautomatisiertes Fahren mit Geschwindigkeiten von bis zu 130 km/h anbieten“, melden aus Bayern die Motorenwerke. Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) habe dem Unternehmen „jetzt die entsprechenden Ausnahmegenehmigungen erteilt“, konkret: Der Autobahnassistent wird im neuen 5er angeboten, den BMW im kommenden Herbst auf den Markt bringen will (unser Aufmacherbild).

Der Autobahnassistent mache es möglich, „während der Fahrt die Hände vom Lenkrad zu nehmen und in einer komfortablen Position abzulegen“. Die im neuen 5er angebotene Version biete zudem „eine Weltneuheit“, nämlich „den aktiven Spurwechselassistenten mit Blick-Bestätigung“. Das KBA bestätige damit „die sichere und zuverlässige Funktionalität sowohl des Autobahnassistenten als auch des aktiven Spurwechselassistenten“, heißt es in der Pressemitteilung weiter.

Und so funktioniert es im Detail:

  • Nutzung als Zusatzfunktion des Lenk- und Spurführungsassistenten auf Autobahnen mit baulich voneinander getrennten Richtungsfahrbahnen;
  • die Verfügbarkeit des Autobahnassistenten wird im Cockpitdisplay angezeigt;
  • der Fahrer muss das Verkehrsgeschehen aufmerksam verfolgen und stets in der Lage sein, die Lenkaufgabe wieder zu übernehmen;
  • eine spezielle Kamera überwacht die Fahreraufmerksamkeit; 
  • der aktive Spurwechselassistent ermöglicht während der teilautomatisierten Fahrt Spurwechsel ohne Fahrereingriff;
  • der aktive Spurwechselassistent kann im Geschwindigkeitsbereich zwischen 60 km/h und 180 km/h genutzt werden;
  • der automatisierte Spurwechsel kann durch eine Blick-Bestätigung des Fahrers in den Außenspiegel aktiviert werden.

Die genannten Autobahn-Features zusammengenommen, sagen die BMW-Leute, böten „ein weltweit einzigartiges Level der Interaktion zwischen Mensch und Automobil“.

Die telematischen Voraussetzungen für den Autobahnassistenten sind ein neuer Software-Stack, eine leistungsstarke Rechenplattform sowie einer Anbindung an die BMW-Cloud über den Mobilfunkstandard 5G. Hinzu kommen mit den Kameras, den Ultraschall- und Radarsensoren und der 360-Grad-Sensorik für eine präzise Positions- und Umfeldbestimmung die Hardware sowie eine Live-HD-Karte mit exakten Streckenverläufen, die permanent mit einer hochgenauen GPS-Ortung abgeglichen wird.

Die laufende Aktualisierung der Rechnerleistung ist selbstverständlich obligatorisch: „Regelmäßige Remote-Software-Updates stellen sicher, dass sowohl die Funktions-Software als auch die Live-HD-Karte immer auf dem neuesten Stand gehalten werden.“

SAE Level 3 für Serienfahrzeuge

Und damit nach Stuttgart und nach Sacramento, Kalifornien. Mercedes‑Benz hat die Zertifizierung für hochautomatisiertes Fahren nach SAE Level 3 durch die Behörden des US-amerikanischen Bundesstaates Kalifornien erhalten, meldet die Marke mit dem Stern. SAE steht für die Society of Automotive Engineers, einen internationalen Berufsverband für Ingenieure, der technische Normen entwickelt.

„Mit diesem Meilenstein ist Mercedes-Benz der weltweit erste und einzige Automobilhersteller, der ein Level 3-System im bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA einführen darf“, heißt es in einer Pressemitteilung. Der DRIVE PILOT werde auf dem US-Markt als Sonderausstattung für die S‑Klasse und den EQS angeboten. Die ersten Fahrzeuge sollen Ende 2023 ausgeliefert werden.

Zum besseren Verständnis: In den USA setzt jeder Bundesstaat eine separate Zertifizierung voraus. Bereits zu Beginn des Jahres hatte beispielsweise der US-Bundesstaat Nevada bestätigt, dass der Mercedes-DRIVE Pilot den dortigen Bestimmungen entspricht.

„Redundanz der sichere und damit einzig richtige Ansatz“

Der DRIVE PILOT nutzt eine hochentwickelte, auf Redundanz basierende Systemarchitektur mit einer Vielzahl von Sensoren. „Die Zertifizierung durch die Behörden in Kalifornien und in Nevada bestätigt einmal mehr, dass Redundanz der sichere und damit einzig richtige Ansatz ist“, sagt Mercedes-Entwicklungsvorstand Markus Schäfer.

Bis 60 km/h oder 40 mph

Fahrerin oder Fahrer können sich bei aktiviertem DRIVE PILOT von der Fahraufgabe abwenden und sich auf Nebenaktivitäten konzentrieren. Das System kann bei hohem Verkehrsaufkommen oder Stausituationen auf geeigneten Autobahn-Abschnitten in Deutschland (bis 60 km/h) oder Freeway-Abschnitten in den USA (bis 40 mph) die Fahraufgabe übernehmen. Sobald die Voraussetzungen für hochautomatisiertes Fahren erfüllt sind, zeigt das System die Verfügbarkeit auf zwei DRIVE PILOT-Tasten im Lenkradkranz an.

Nach Aktivierung regelt der DRIVE PILOT die Geschwindigkeit sowie den Abstand zum vorausfahrenden Verkehr und führt das Fahrzeug innerhalb der Spur. Das System wertet permanent Streckenverlauf, Ereignisse auf der Strecke sowie Verkehrszeichen aus und reagiert auf unerwartet auftretende Verkehrssituationen mit Ausweichmanövern innerhalb der Spur oder mit Bremsmanövern. Der DRIVE PILOT baut auf der Umfeldsensorik des Fahrassistenz-Pakets auf und umfasst zusätzliche Sensoren, die Mercedes‑Benz „für einen sicheren Betrieb für unverzichtbar hält“.

Dazu gehören

  • LiDAR,
  • Mikrofone,
  • eine Kamera in der Heckscheibe zur Erkennung von Einsatzfahrzeugen,
  • ein Nässesensor im Radkasten,
  • redundante Lenk- und Bremssysteme sowie ein
  • redundantes Bordnetz.

Mercedes will „bis Ende dieser Dekade hochautomatisiertes Fahren auf der Autobahn bis 130 km/h“ realisieren. Als Zwischenschritt nennen die Mercedes-Entwickler die Tempomarke 90 km/h.

Foto: BMW

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Hugo von Bitz