Die Kernkraft und ein falscher „Prüfvermerk“

Trotz akut drohender Engpässe bei der Energieversorgung bleibt die Kernenergie für die Grünen tabu. Bundeswirtschaftsminister Habeck und Bundesumweltministerin Lemke wollen das Thema aussitzen – und lassen ihre Beamten Nebelkerzen werfen.

 In Zeiten akut drohender Versorgungsengpässe müsste die Bundesregierung eigentlich alles daransetzen, die Laufzeit der drei noch aktiven deutschen Kernkraftwerke (KKW) zu verlängern und die drei zum Jahreswechsel 2021/22 vom Netz gegangenen Anlagen zu reaktivieren. Doch die zuständigen grünen Minister Robert Habeck und Steffi Lemke ducken sich weg, ihre Mitarbeiter verbreiten Fakenews.

Wenn es je eine Rechtfertigung für die Feststellung gab, dass Energiepolitik in Deutschland das Werk von Ideologen ist, dann trifft dies angesichts der aktuellen Debatte um die mögliche Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke im Land zu. Während in der Bevölkerung und der Wirtschaft, immer stärker auch in der Politik, die Frage nach preisgünstiger und verfügbarer (!) Energie immer lauter wird, kommen die Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft im März 2022 in einer gemeinsamen Stellungnahme zum Ergebnis, längere Laufzeiten seien in einer „Abwägung von Nutzen und Risiken“ nicht zu empfehlen. Juristisch und fachlich ist das unhaltbar.

12,6 Prozent Atomstrom – ohne Importe

Aktuelle Fakten zum Thema Atomstrom: Ohne die überwiegend aus Frankreich importierten rund 50 Terrawattstunden (50 Milliarden kWh) wurden 2019 in Deutschland 71 Milliarden kWh aus sechs Kernkraftwerken eingespeist. 2020 verringerte sich die Zahl auf 61 Milliarden kWh, im vergangenen Jahr gab es einen erneuten Anstieg auf 65,2 Milliarden kWh.

Im Jahr 2021 betrug der Anteil der in Deutschland produzierten Kernenergie 12,6 Prozent der eingespeisten Strommenge, das war exakt so viel wie der Stromanteil aus Erdgas. Der Anteil der konventionellen Energieträger (Kohle, Kernenergie, Öl und Erdgas) lag 2021 mit 57,6 zu 42,2 Prozent übrigens unverändert deutlich über den Erneuerbaren Energieträgern. Der witterungsbedingte Einbruch der Windenergie wurde durch Braunkohle ausgeglichen.

Tatsache ist und bleibt: Das Thema Wetter spielt bei der Stromerzeugung eine große Rolle. Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht („Dunkelflaute“) müssen die Konventionellen unverändert die Grundlast absichern.

2022 wird der Strom aus Kernkraft nach Abschaltung von drei Kernkraftwerken zum Jahreswechsel 2021/22 wesentlich niedriger sein. Kohle, Erdgas und Kernkraft sind aber im ersten Quartal immer noch die wichtigsten Energieträger gewesen.

Ökologie und Strompreise

Die Zahlen machen deutlich, dass sechs Kernkraftwerke den gesamten Strom aus Erdgas oder einen großen Teil der Braunkohle bei der Stromerzeugung ersetzen könnten. Der ökologische Nutzen wäre erheblich, der Druck auf die Strompreise ebenso. Letzteres ist, da Deutschland weltweit die höchsten Strompreise hat, nicht unbedeutend. In Energiekrisenzeiten sollte kurzfristig jede Megawattstunde zur Notfallversorgung zur Verfügung stehen, von längeren Laufzeiten für Kohle und Kernkraft über den Einsatz von Geothermie, Fracking und Flüssiggas LNG.

Nachhaltig und förderfähig

Weltweit wurde und wird auf Kernenergie gesetzt.

1958 trat der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft in Kraft. In der Präambel wird auf die Rolle des neuen Energieträgers für die Entwicklung und Belebung der Produktionskräfte der beteiligten Volkswirtschaften hingewiesen. In Deutschland gab es den ersten Atomminister (Franz Josef Strauß), das Godesberger Programm der SPD schwärmte von der Kernenergie.

Die damaligen Argumente gelten nach wie vor. Unser Nachbar Polen plant neue Kernkraftwerke an der deutschen Grenze. Weltweit sind viele Kernkraftwerke geplant oder sogar im Bau. Die EU-Kommission hat mit ihrer Taxonomie Kernenergie wegen ihres fehlenden CO²-Ausstoßes als nachhaltig und damit förderfähig eingestuft.  In der Bevölkerung gibt es eine Mehrheit für den Weiterbetrieb der letzten Kernkraftwerke.

Dass sich die Kraftwerksbetreiber nicht deutlich für längere Laufzeiten aussprechen, ist hingegen keine Überraschung. Die Energieversorger haben nach langem erfolgreichem Streit vor dem Bundesverfassungsgericht für das vorzeitige Ende ihrer Kernkraftwerke eine Entschädigung erhalten und konnten sich mit ihren Rückstellungen von 24 Milliarden Euro von der Endlagerverpflichtung freikaufen. Sie sind das Hin und Her nach dem Jahr 2000 und der sogernannten Energiewende mit Ausstieg aus der Kernenergie (Regierung Schröder, 2000), Wiedereinstieg (Regierung Merkel, Herbst 2010) und Wiederausstieg (Regierung Merkel, Frühjahr 2011) leid.

Fragen und Antworten

Der Bund ist nach Art. 73 Abs. 1, Ziff. 14 ausschließlich für Entscheidungen zur Kernenergie zuständig. Aber ziehen die Argumente der zwei Bundesministerien wirklich? Einen Energieträger zu beerdigen, bevor Ersatz da ist, klingt nicht logisch. Entscheidungen zu notwendigen neuen Brennstäben und dem Personal der noch vorhandenen Kraftwerke sind nötig. Aber es sind Fragen, die beantwortet werden können.

Es bleibt die Ideologie.

Nachdem Grüne und SPD in den vergangenen Monaten viele Positionen räumen mussten, bleibt die Erinnerung an den vermeintlich heldenhaften Kampf gegen die Kernenergie übrig. Stichwort Brokdorf. Dabei ist das Kernkraftwerk an der Unterelbe eine Anlage, die in den letzten Jahren immer wieder Weltrekorde bei der Stromerzeugung erzielte und die ideal geeignet wäre, bei Windflaute einzuspringen.

Fadenscheinige Bedenken

Und es bleiben fadenscheinige rechtliche Bedenken der zwei zuständigen Bundesministerien. Rechtsexperten haben den Widerstand gegen den Weiterbetrieb der sechs letzten deutschen Kernkraftwerke als „wenig überzeugend“ zurückgewiesen, wie ein Gutachten im Auftrag des Wirtschaftsrates zeigt. Es bezeichnet die weitere Nutzung der drei Ende letzten Jahres abgeschalteten und der bis Ende 2022 laufenden Kraftwerke als „von Rechtswegen zulässig und rechtssicher regelbar“. Das 1960 in Kraft getretene Atomgesetz mit den inzwischen erfolgten Änderungen erfordert für den Weiterbetrieb weder die Erteilung von neuen Genehmigungen noch die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen.

Die nach § 7 Abs. 1 Atomgesetz (AtomG) erteilte Genehmigung ist nicht widerrufen worden. Sie gilt weiter. Die Berechtigung zum Leistungsbetrieb erlischt nach § 7 Abs. 1a AtomG, wenn die dem jeweiligen Kernkraftwerk zugestandene Elektrizitätsmenge erzeugt wurde. Diese Regelung wurde vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der sogenannten Energiewende eingefügt, nachdem ein Jahr zuvor die Laufzeiten verlängert worden waren. Das bedeutet, dass nun erneut durch einen gesetzlichen Federstrich längere Laufzeiten – sprich: höhere Energiemengen – verfügt werden könnten.

Der „Prüfvermerk“ ist falsch

Falsch ist also der „Prüfvermerk“ der beiden Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft, dass ein Weiterbetrieb oder ein Wiederanfahren wegen der genehmigungsrechtlichen Situation nicht in Betracht käme, weil es jeweilige Neugenehmigungen erforderlich mache.

Wie auch die Gutachter der Ruhr-Universität hierzu feststellen ist nach dem Atomgesetz lediglich das Recht zum Leistungsbetrieb (der abgeschalteten drei KKW), nicht jedoch die Betriebsgenehmigung erloschen, zumal die drei abgeschalteten noch im Nachbetrieb laufen. Die Kraftwerke verfügten über bestandskräftige, vollziehbare und den Betrieb rechtfertigende Legitimationen. Aktuell bestünden die Genehmigungen uneingeschränkt, wie ein Blick in das Atomgesetz belege. Die Genehmigungen müssten also nicht neu erteilt werden. Stilllegungen seien noch nicht genehmigt worden, was nach Art 73 III GG vorgeschrieben sei.

Nach Meinung der Professoren des Institutes für Berg- und Energierecht der Ruhr-Universität ist es auch falsch, auf den Standard der Baureihe der Kraftwerke zu verweisen. Der Standard der Druckwasserreaktoren der dritten Generation (EPR-Standard, European Pressurized Reactor-Standard), die von der französischen EDF und Siemens entwickelt wurden, sei nicht ausschlaggebend für die Bewertung der Sicherheit (zumal nach 2011 ein intensives Monitoring aller deutschen KKW erfolgt sei). Die EPR-Reaktoren unterlägen keinem anderen Maßstab bei der Bewertung der Sicherheit als andere Kraftwerke.

Juristisch „nicht fundiert“

Der Wirtschaftrat stellt mit Recht fest, die juristischen Argumente gegen den befristeten Weiterbetrieb der sechs gerade abgeschalteten und noch laufenden KKW sei „nicht fundiert“.

Ein schlimmeres Urteil zu einem juristischen Sachverhalt gibt es eigentlich nicht.

 

Unser Aufmacherbild: Bevor der Strom aus der Steckdose kommt, muss er produziert und eingespeist werden. Irgendwie. Parkplatz mit 152 Ladepunkten bei Opel in Rüsselsheim, Tor 60. Foto: motorfuture

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

Dietrich Austermann