Hoch im Norden

Die Transformation der Energiewirtschaft wird vor allem in den norddeutschen Bundesländern vorangetrieben. Das bringt auch große Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung.

Wer die Energie hat, hat die Arbeitsplätze. Das galt zumindest so lange das Gas aus Russland in die deutschen Speicher strömte.

Dass dies ewig so weitergeht unterstellten offensichtlich die Ampel-Koalitionäre mit ihren Energiebeschlüssen in 2021. Was in der öffentlichen Diskussion oft negiert wird, bestätigen Details in der Koalitionsvereinbarung in der neben einem „massiven Ausbau der Erneuerbaren Energieträger die Errichtung von modernen Gaskraftwerken zum Füllen der Lücken in der Dunkelflaute“ gefordert wird.

Diese neuen Gaskraftwerke sollen an den vorhandenen Kraftwerksstandorten errichtet werden. Davon gibt es eine ganze Menge. 31 Prozent des eingespeisten Stroms stammt aus Kohlekraftwerken. Zurzeit arbeiten 37 Kohlekraftwerke mit einer Leistung von jeweils über 100 Megawatt und zwölf Braunkohlekraftwerke für die Stromversorgung. Bisher hat sich die Ampel von den 40 bis 50 neuen Gaskraftwerken nicht verabschiedet.

Wind, Sonne, Wasser, Biomasse: rund 40 Prozent

Unbestreitbar ist bei Windkraftanlagen immer ein Backup an konventionellen Kraftwerken erforderlich. Der Norden hat beim ersten Schritt, dem Windkraft-Ausbau, vorgelegt. Neben den knapp 8000 Mühlen in Nord und Ostsee stehen an Land knapp 70 Prozent der 30.000 deutschen Windkraftwerke.

Das Ergebnis ist je nach Perspektive mehr oder weniger befriedigend. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat die Windkraft im vergangenen Jahr bei einem Gesamtverbrauch von 517,7 Terrawattstunden (TWh) 111,5 TWh in die deutschen Stromnetze eingespeist. Das entspricht einem Anteil von 21,5 Prozent. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Weitere Lieferanten aus der Sparte Erneuerbare waren die Photovoltaik, die Biomasse und die Wasserkraft mit einem Gesamtanteil von 18,1 Prozent.

Es ist davon auszugehen, dass in nächster Zeit weiter massiv zugebaut wird. Wo Deutschland bei der Energiewende im Jahr 2030 steht, hängt – da Kernenergie aus Ideologiegründen ausgeschlossen wird – entscheidend von den Erneuerbaren Energien ab.

Unterstellt man, dass der Strombedarf deutlich zunimmt (Digitalisierung, Internet, Verkehr, Wärmepumpen), wird klar, dass relativ kurzfristig sehr viele zusätzliche Wind- und Solarstandorte gebraucht werden. Der Norden mit seinen großen Flächen bietet sich dafür weiterhin an.

Wer speichert wie?

Im Zusammenhang mit den Erneuerbaren ergibt sich ein weiteres Thema für Zukunftsaufgaben. Wer speichert wie die Energie? Mit dem Modell Power-to-Gas wird das Ziel verfolgt, aus überschüssigem Windstrom per Elektrolyse Wasserstoff zu erzeugen, synthetisches Methan für das Erdgasnetz zu erzeugen und Gas in unterirdischen Gas-Kavernen zu speichern, um es dort bei Bedarf zu entnehmen und energetisch einzusetzen – zum Beispiel für den Betrieb von Brennstoffzellen im Verkehrssektor.

Der Einsatz von Wasserstoff hat im Vergleich zur Batterieelektrik vor allem den Vorteil kurzer Tankzeiten, die mit denen herkömmlicher Treibstoffe vergleichbar sind. Wegen ihrer geografischen Nähe zu den Offshore-Windparks, aber auch wegen der Hafeninfrastruktur für den Wasserstoff-Import aus dem Ausland sind insbesondere die norddeutschen Bundesländer für den Betrieb von Speicherkavernen prädestiniert.

Keine Frage, der Aufbau einer versorgungssicheren Wasserstoffinfrastruktur auf der Basis der Erneuerbaren Energien („grüner Wasserstoff“) gilt als Schlüsselelement für eine Transformation der Energiesysteme.

Wasserstoff-Hauptstadt Hamburg

Hamburg spielt eine aktive Schrittmacherrolle beim Weg in die Wasserstoff-Zukunft. Im August hat der Senat 223 Millionen Euro bewilligt, um grünem Wasserstoff zum Durchbruch zu verhelfen. Dadurch sollen mit Bundeshilfe acht Projekte im Gesamtwert von zwei Milliarden Euro ausgelöst werden. Der Senat spricht im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung von nicht weniger als der „nächsten industriellen Revolution“. So soll beispielsweise auf dem Kraftwerksgelände in Moorburg ein Groß-Elektrolyseur Wasserstoff produzieren – mit Offshore-Ökostrom. Private Finanziers sind Shell und Mitsubishi.

Weitere Ziele sind ein Wasserstoff-Netz im Hafen und der Einsatz der Zukunftsenergie bei der Stahl- und der Flugzeugproduktion (Airbus). Im Hamburger Hafen wurde eine erste Power-to-Liquid-Anlage in Betrieb genommen, die E-Fuels sowie synthetische Rohstoffe liefert. E-Fuels entstehen aus der Verbindung von Wasserstoff mit Kohlenstoff.

Und weil Wasserstoff besonders für die energieintensive Industrie ein Wechsel auf die Zukunft ist, leistet der Norden nicht zuletzt für die Wirtschaft im Süden einen zentralen Transformationsbeitrag und damit auch für Arbeitsplätze.

Öl, LNG, Chips

Und es gibt weitere gute Nachrichten aus dem Norden.

  • In der Deutschen Bucht wird weiter Öl gefördert. Bis 2040 wird mit einem Ertrag von mindestens 14 Millionen Tonnen gerechnet. Auf die Genehmigung für weitere Millionen Tonnen durch das Landesbergamt Schleswig-Holstein wartet das Unternehmen Wintershall Dea seit drei Jahren (im Kieler Landtag wird von den GRÜNEN eine Erhöhung des Förderzinses gefordert).
  • An den Standorten Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Stade werden LNG-Terminals errichtet.
  • Intel will In der Nähe von Magdeburg für 17 Milliarden Euro eine Chip-Fabrik bauen.
  • Eine weitere Chip-Fabrik entsteht in Itzehoe.
  • Das aus dem Itzehoer Fraunhofer-Institut hervorgegangene Unternehmen Custom-Cells entwickelt und produziert anwendungsspezifische Batterien, unter anderem für die Luft-Taxis von Lilium. Die Elektroden-Fertigung und die Elektrolyt-Entwicklung runden das Hightech-Angebot ab.
  • In Grünheide bei Berlin baute Elon Musk die größte Elektroauto-Fabrik in Deutschland.
  • Der VW-Konzern plant eine Milliardeninvestition in ein neues Werk in Wolfsburg.
  • Hamburg-Finkenwerder beherbergt einen Flugzeugbau-Standort, der aus den Nähten platzt.
  • Bremen steht für Raumfahrt und das Orion-Mondflug-Projekt.
  • Hamburg hat die erste digital fahrende S-Bahn weltweit.
  • Kieler Werften stehen für U-Boot-, Fregatten- und Korvettenschiffbau.
  • Die im Bau befindliche Fehmarnbelt-Querung verknüpft den skandinavischen mit dem norddeutschen Wirtschaftsraum.
  • Der Bau des Elbtunnels bei Glückstadt soll ab 2024 folgen.
Northvolt in Heide wackelt

Der Norden hat einen guten Lauf, keine Frage. Aber es gibt auch Rückschläge. Das Startup Electric Brands zum Beispiel hat seine Pläne aufgegeben, den elektrischen XBus auf dem Gelände der ehemaligen Gruner und Jahr-Tiefdruckerei in Itzehoe in Eigenregie zu bauen. Und auf der Kippe steht auch die Northvolt-Investition in Heide. Das schwedische Unternehmen beklagt die im internationalen Vergleich hohen Strompreise in Deutschland. Die Entscheidung über die Ansiedlung der neuen Batteriefabrik mit 3000 Arbeitsplätzen an der Westküste steht in den nächsten Wochen an. Noch hofft die Kieler Landesregierung. Immerhin wird im nur 50 Kilometer entfernten Itzehoer Fraunhofer-Institut neben anderem an den Batterien der Zukunft geforscht, und die Westküste plant die Elektrifizierung der Gleisanschlüsse sowie hunderte Wohnungen für die neuen Mitarbeiter.

Doch momentan ist das Zukunftsmusik. Die „dümmste Energiepolitik der Welt“ (Wall Street Journal) entwickelt sich zum gefährlichen Standortnachteil. Der gigantischen Arbeitsplatzmaschine in der strukturschwachen Region droht noch vor dem ersten Spatenstich das Aus. Und das ausgerechnet in einer Gegend, in der billiger Strom förmlich in der Luft liegt. Im Land zwischen den Meeren weht der Wind praktisch Tag und Nacht.

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

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Dietrich Austermann