Klar ist nur, dass nichts klar ist

Der Fall Winterkorn: die juristischen Fakten, die offenen Fragen und das verfahrenstechnische Procedere.

Kommt der Verdacht eines Verstoßes gegen Strafgesetze gegen einen Menschen in Deutschland auf, zum Beispiel durch eine Anzeige, ermittelt die Staatsanwaltschaft (StA) – genauer: Ermittelt wird in der Regel von ihren „Hilfsbeamten“, also den weisungsabhängigen Kriminalbeamten. Sie tragen Fakten zusammen, damit eine Entscheidung über eine öffentliche Klage (Anklage) getroffen werden kann. Die StA (Herr des Verfahrens) hat dabei nach der Strafprozessordnzung nicht nur die belastenden, sondern auch die entlastenden Umstände zu ermitteln.

Angeschuldigter, nicht Angeklagter

Ist die Anklage mit dem Schuldvorwurf und den Beweiserhebungen fertiggestellt, erhält der Beschuldigte, der jetzt „Angeschuldigter“ ist, Gelegenheit zur Stellungnahme, die an das Gericht weitergeleitet wird. Das Gericht hat dann zu entscheiden, ob es die Anklage zulässt und damit das Hauptverfahren eröffnet. Ab diesem Zeitpunkt gilt der Angeschuldigte als Angeklagter. Damit ist aber noch längst nicht sicher, dass das Gericht zu einem Urteil kommen wird. Wenn es die Beweislage als zu dünn empfindet, kann auf die zugelassene Anklage ein Freispruch oder eine Einstellung des Verfahrens folgen.

Das Strafverfahren gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn und andere befindet sich jetzt im Stadium der Anhörung der Angeschuldigten. Ihnen wurde bis 1. Juli 2019 eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt. Angeklagt wurden die Betroffenen wegen (schweren) Betruges (§263 StGB), Untreue (266 StGB) und Marktmanipulation (§§119,120 Wertpapierhandelsgesetz).

Betrug, schwerer Betrug, Untreue?

Nach § 263 StGB wird wegen Betruges bestraft, wer vorsätzlich durch eine Täuschungshandlung oder ein Unterlassen einen Irrtum bei einem Dritten erregt oder unterhält, wodurch dieser zu einer ihn schädigenden Vermögensverfügung veranlasst wird. Das kann unmittelbar oder mittelbar, unter Benutzung eines gutgläubigen Dritten, geschehen.

Also beispielsweise die Täuschung über einen wertbildenden Faktor (funtionierende, gesetzlich zugelassene Abgasreinigung) oder die Laufleistung eines Fahrzeugs durch den unwissenden Autohändler. Der Vermögensschaden liegt dann im Auseinanderklaffen von Zahlungsanspruch und Wert des Fahrzeugs.

Martin Winterkorn hätte (Vorsatz) also, nachdem er über die Software-Manipulation unterrichtet wurde, zugelassen haben müssen (Betrug durch Unterlassen), dass Dieselfahrzeuge, weiter mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung an ahnungslose Kunden ausgeliefert werden. Die StA behauptet dies in ihrer Anklageschrift. Schwachpunkt der Anklageschrift: Zum Beweis der Anschuldigungen werden weder Urkunden noch sonstige Unterlagen vorgelegt, die die Kenntnis des/der Betroffenen belegen. Als Beweismittel dienen lediglich vier Kronzeugen, die zum Teil selbst betroffen sind. Es dürfte interessant sein, wie das Landgericht in seiner Entscheidung zum Hauptverfahren darüber denkt. Dass deutsche Gerichte ohne Ansehen der Person entscheiden, belegen die vielen Verfahren gegen Topmanager (Middelhoff, von Pierer, Nonnenmacher, Ackermann) mit sehr unterschiedlichem Ausgang.

Entscheidung völlig offen – möglicher Prozess nicht vor 2020

Wenn aber im Fall Winterkorn der Vorwurf des Betruges fraglich ist, scheidet erst recht der Vorwurf des schweren Betruges (§ 263 Abs. 3 StGB) aus, der unter anderem dann vorliegt, wenn in der Absicht gehandelt wird, durch fortgesetzte Begehung eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen.

Auch der Vorwurf der Untreue (§266 StGB) hängt im vorliegenden Fall mit der Bejahung des Betrugsvorwurfes zusammen. Konkret meint Untreue hier die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht durch treuepflichtwidrige Schädigung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens der Aktionäre oder der Marktmanipulation, weil der Markt nicht über die Probleme des Unternehmens aufgeklärt wurde.

Das Landgericht Braunschweig will bis Ende des Jahres über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden. Ein möglicher Prozess gegen den Ex-VW-Chef und die Mitangeschuldigten ist also nicht vor 2020 möglich. Winterkorn, der den Volkswagen-Konzern und davor die Konzerntochter Audi 14 Jahre lang führte, wird im kommenden Jahr 73 Jahre alt.

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

 

Dietrich Austermann