Nulltarif für den Öffentlichen Personennahverkehr? Öffis für lau? Das ist Bahnsinn für Fortgeschrittene. Und zur Abwechslung mal eine gute Idee. Aber warum steht nichts davon im Koalitionsvertrag?
Wunder gibt es immer wieder. Alles im Fluss. Die Natur nennt es Evolution, die Geschichte Revolution. Plötzlich ist nichts mehr, wie es eben noch war. Kontinentalplatten – plötzlich verschoben. Saurier-Populationen – plötzlich weg. Der Kaiser im Exil in Holland. Hermann Göring auf der Anklagebank in Nürnberg. Erich Honecker in Chile. Oder die Dampfmaschine – weg. Die Setzmaschine – weg. Die Schuhindustrie – weg.
Das Beharrungsvermögen des Menschen und seiner Gesellschaften ist enorm. Aber wenn die Zeit der Veränderung gekommen ist, schiebt das Neue das Alte hinweg, und irgendwann wird auch das Neue das Alte sein. Im öffentlichen Raum der Städte zum Beispiel haben wir uns daran gewöhnt, dass die Straßenbenutzung nichts kostet. Wäre ja noch schöner! Straßenbeleuchtung? Umsonst. Straßenkehrer? Zahlt die Stadt. Das kommt der Sache übrigens schon näher. Die Stadt, also der Steuerzahler, bezahlt die Männer mit den Kehrmaschinen wie übrigens auch den Strom für die Laternen oder den Teer für die Schlaglöcher.
Beim ÖPNV, dem Öffentlicher Personennahverkehr, soll das Prinzip Straßenbeleuchtung nicht möglich sein. Der Vorschlag der geschäftsführenden Bundesregierung, die Verkehrs- und Umweltbelastung in den Städten mit einem kostenfreien ÖPNV zu kontern, stößt jedenfalls auf reflexartige Abwehr. Zu teuer! Wer soll das bezahlen? Was nichts kostet, taugt auch nichts! Stellt die Verkehrsbetriebe vor enorme Herausforderungen! Kurz: Geht nicht!
Geht nicht gibt’s aber nicht, jedenfalls nicht jenseits der Naturgesetze.
Deshalb zu den Fakten. Die Nutzung der Öffentlichen geht in Deutschland ins Geld, und nicht zu knapp. In Stuttgart kostet ein Einzelticket 2,50 Euro, in Frankfurt am Main 2,75 Euro, in Berlin 2,80 Euro, in Hamburg drei Euro. Ja, es gibt Kurzstrecken-, Mehrfach-, Schüler-, Tages-, Monats- und Jahrestickets. Das mildert den Schmerz im Tarifdschungel, aber nur ein bisschen. Die Öffis sind teuer.
Viele fahren deshalb schwarz, was nicht erlaubt ist und deshalb bei Entdeckung geahndet wird. Die Erfolgsquote der Kontrolleure ist zwar gering – zu wenige sind zu selten unterwegs -, aber groß genug, um die Dienstzimmer der Amtsrichter zu verstopfen.
Kostenloser Personennahverkehr würde also
- den Verkehr in den Städten entlasten,
- die Luftqualität verbessern,
- den Gerichten eine Flut von Bagatellfällen ersparen.
Wenn es nichts mehr kostet, werden sich die ÖPNV-Passagierzahlen dramatisch erhöhen, sagen die Verkehrsbetriebe. Genau das ist ja der Sinn der Sache. Mit allen Konsequenzen für Betrieb, Ausstattung, Personal.
Die Kosten wären enorm, sagen die Kritiker und sprechen von einem niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag. Das Argument ist korrekt, aber die Mobilität in einer hochentwickelten arbeitsteiligen Gesellschaft ist alternativlos.
Wer soll das bezahlen? Wie wäre es mit den Organisationen der Staatsbürger und Steuerzahler, also mit Bund, Ländern und Kommunen? Und wie wäre es mit Sparen an anderer Stelle. Es gibt genügend diskutable Positionen in den öffentlichen Haushalten, die derzeit mit Milliarden geradezu geflutet werden.
Die Idee, die Nutzung des ÖPNV künftig kostenfrei zu stellen, ist deshalb kein Wahnsinn, sondern Bahnsinn für Fortgeschrittene. Die noch geschäftsführende Große Koalition bekennt sich mit Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) parteiübergreifend zu der Idee. Erstaunlich eigentlich, dass kein Wort davon im Koalitionsvertrag steht.