Die Zukunft der Stadt (4): Automatisierter und vernetzter Verkehr im langen Level 4

Autonomes Fahren, Verkehrswende, neue Mobilität: Das Forschungsprojekt AVENUE21 (TU Wien) skizziert konkrete Szenarien für die Zukunft der Stadt. Wir fassen die Wiener Ergebnisse in einer kleinen Serie zusammen. Folge 4: Siedlungsentwicklung, Verkehrspolitik und Planung während der Übergangszeit.

Nach monatelangen Schlagzeilen zum Thema Maut versuchte es Andreas Scheuer (CSU) Mitte Februar mit einem Zukunftsthema. Der Bundesverkehrsminister legte im Kabinett den Referentenentwurf für ein Gesetz vor, das Autonomes Fahren im Level 4 gestattet. Das Gesetzesvorhaben ist keine Kleinigkeit: Level 4 bedeutet, dass ein Computersystem im Fahrzeug alle Situationen automatisch ohne Eingriff des Fahrers bewältigen kann

Ein Fahrer ist nicht mehr an Bord

Die AVENUE21-Forscher der Wiener Universität denken schon einen Schritt weiter. Das Projekt thematisiert bereits jetzt den automatisierten und vernetzten Verkehr (avV) mit vollständig automatisiertem Fahren, bei dem lediglich das Fahrziel programmiert werden muss (Level 5) – ein Fahrer ist nicht mehr an Bord.

Das ist möglicherweise ein reizvoller Gedanke, der allerdings in komplexen Fragestellungen mündet: Welche Lösungsansätze verlangt der automatisierte und vernetzte Verkehr in der Siedlungsentwicklung unserer Städte und in der Verkehrspolitik? Und welche technischen Probleme müssen gelöst werden?  Vor allem nämlich: Wo fahren die autonomen Fahrzeuge mit welcher Geschwindigkeit und wie begegnen sie anderen Verkehrsteilnehmern?

Die Frage der Vernetzung ist für die Städte von erheblicher Bedeutung (Ampeln, Straßenmöblierung und Leitsysteme). Sie ist mit absehbar gewaltigem finanziellem Aufwand verbunden. Generell hing und hängt die Entwicklung von Städten eng durch die mit dem Verkehr ermöglichte räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten zusammen. Die Folge war und ist ein weniger geordnetes Stadtwachstum.

Und wichtig ist nach Meinung der Wiener Forscher nicht zuletzt die Debatte über die Akzeptanz der revolutionären Technik.

Das kostet viel Geld

Klar ist, dass der automatisierte und vernetzte Verkehr zunächst einmal auf allen Ebenen enorme Investitionskosten verursacht. Die unterschiedliche bauliche Dichte der Städte, die Ansprüche an die Nutzung der Straßeninfrastruktur und ein sich änderndes Standortwahlverhalten der Bevölkerung und der Wirtschaft spielen dabei zentrale Rollen. Die diesbezüglichen Simulationen der Forscher umfassen Straßenkapazität/Stau, Verkehrssicherheit, Infrastruktur, Fahrzeugbesitz, Verkehrsnachfrage, Parkplätze, Siedlungsstruktur, soziale Gerechtigkeit, Gesundheit, Umwelt, Cybersicherheit, Wirtschaft und Verwaltung. Und sie widmen sich der Abschätzung der erheblichen zu erwartenden fiskalischen Effekte. Wie entwickeln sich die an die Fahrzeugnutzung gekoppelten Steuerreinnahmen, wie die Ausgaben für Straßeninfrastruktur?

Komplexe Stadtgebilde, zum Beispiel Wien

Während Autobahnen oder Sonderareale wie Parkhäuser “leichtere“ Automatisierungsaufgaben darstellten, bezeichnen die Forscher die wissenschaftliche Abschätzung für komplexe Stadtgebilde als ungleich schwerer, zumal in den Städten selbst eine Vielfalt von straßenräumlichen Kontexten bestehe. Hier steht die Summe der Eigenschaften und Umweltbedingungen (Operation Design Domain= ODD) jeweils am Ausgangspunkt der Betrachtungen.

Am Beispiel der Stadt Wien werden die Faktoren für die Eignung von Straßenräumen zum Einsatz von automatisierten Fahrzeugen (automated Drivability) untersucht, nämlich Anzahl und Verschiedenheit der Objekte im Straßenraum, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Zustand der Infrastruktur sowie Vegetation.

San Francisco, London, Göteborg, Tokio, Singapur

Die Wiener Forscher haben zudem fünf Städte ausgewählt, die sich in der Erprobung und Demonstration von avV besonders engagieren: San Francisco, London, Göteborg, Tokio und Singapur.

Untersucht wurden die individuellen Herausforderungen, Innovationsnetzwerke, Leitbilder und Strategien in diesen Städten.

  • In San Francisco drängen ein akuter Wohnungsmangel, ein fragmentiertes Verkehrssystem und eingeschränkte Mobilitätsmöglichkeiten auf Veränderung. Und die Tech Giants aus dem Silicon Valley wollen ihre Technologien in den Straßen der Stadt testen. Die Städtische Verkehrsagentur hat einen Rahmen für Kooperationen geschaffen. Sicherheit und bessere Mobilität für alle sind das Ziel.
  • London wird vor allem durch die schnell wachsende Bevölkerung herausgefordert. Zahlreiche Hochschulen und Think Tanks arbeiten an der Entwicklung des Einsatzes von automatisierten und vernetzten Fahrzeugen (avF) in Großbritannien. Die wichtigsten Entwicklungsnarrativen konzentrieren sich auf ökonomische Wettbewerbsvorteile, Gesundheit und Wohlbefinden sowie gutes Wachstum in einer polyzentrischen Stadt. In zahlreichen Projekten wurde untersucht, wie Bürger die automatisierte und vernetzte Mobilität (avM) im Alltag einschätzen.
  • Auch in Göteborg treiben die steigende Bevölkerungszahl und der zunehmende Warenverkehr die Entwicklung. Die Kooperationsplattform Drive Sweden unterstützt die Entwicklung von avF in Göteborg. Die zweitgrößte schwedische Stadt soll als Standort einer wissensbasierten Wirtschaft entwickelt werden.
  • Die Herausforderungen in Tokio sind hingegen eine dramatisch schrumpfende und alternde Bevölkerung sowie Arbeitskräftemangel. Das Council of Science hat ein Programm aufgelegt, das automatisiertes Fahren in verschiedenen Bereichen mit einer koordinierten Forschung kombiniert. Japan strebt das sicherste und sanfteste Verkehrssystem in der „fortschrittlichsten IT-Nation der Welt“ an.
  • In Singapur schließlich stehen die Landknappheit und die wachsende Bevölkerung im Vordergrund. Ein Commitee on Autonomous Road Transport setzt sich ausschließlich mit avF und avM auseinander. Singapur strebt als „Smart Nation“ die autofreie Stadt an. Hochverdichtete Siedlungsgebiete sind für diverse standortspezifische Anwendungen von avF vorgesehen.

Ist das Privatauto ein Auslaufmodell?

Die Wiener Forscher weisen darauf hin, dass die avM-Debatte in Europa zahlreiche Problemfelder adressiert: Klimaschutz, Sicherheit, Platzverbrauch von Automobilen oder Chancen für mobilitätseingeschränkte Personen. Die nicht vorhandene Nachhaltigkeit des heutigen Autoverkehrs sei unumstritten, weshalb sich die Diskussion zunehmend umweltpolitisch darstelle. Automatisierung, Elektrifizierung und Konnektivität sollten gleichzeitig Wettbewerbsfähigkeit und europäische Integration stärken. Die Forscher fordern einen stärkeren kultur- und wachstumskritischen Diskurs. Das Auto in Privatbesitz sei konkret zu hinterfragen.

Die AVENUE21-Autoren beklagen, dass automatisierte Mobilität vor dem Hintergrund bestehender Stadtentwicklungsziele diskutiert werde, aber geeignete Planungsansätze fehlten. Sie mahnen den Diskurs um die lokalen Bedingungen für eine lebenswerte Stadt im Zeitalter digitaler Transformation an und warnen vor einer übereilten Implementierung von ausschließlich technologischen Lösungsansätzen.

„Pioniere des Wandels“

Dass der Diskurs vor allem durch „selbst organisierte Gruppen“, „lokale Akteure“ oder „Pioniere des Wandels“ geführt und die „Zivilgesellschaft“ in „Reallaboren“ „auf alternative Pfade“ geschickt werden soll, schreckt sicher manch einen Politiker ab. Es ändert aber nichts an der Berechtigung der Forderung, schon heute die Planung für übermorgen in Angriff zu nehmen.

Inwieweit das gelingt und ob die Verkehrsteilnehmer mitmachen, bleibt eine zu beantwortende Frage – auch nach dem 4. Kapitel.

 

Unser Aufmacherbild: Straßenbahn in San Francisco. Foto: Pixabay

 

Demnächst hier bei motorfuture: Die Zukunft der Stadt, Folge 5: Szenarien.

 

Mehr zum Thema

Die Zukunft der Stadt, Folge 1: Das Projekt

Die Zukunft der Stadt, Folge 2: Straßen und Quartiere

Die Zukunft der Stadt, Folge 3: Die Ausgangssituation

 

Die Studie: „AVENUE21. Automatisierter und vernetzter Verkehr: Entwicklungen des urbanen Europa“ ist Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsvorhabens an der Technischen Universität (TU) Wien, gefördert von der Daimler und Benz Stiftung. Anhand ausgewählter Städte und Ballungsgebiete wurde untersucht, welche Szenarien für Europa zu erwarten sind und welche Entwicklungen sich bereits heute weltweit abzeichnen.

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

Dietrich Austermann