Die Zukunft der Stadt (5): Szenarien

Autonomes Fahren, Verkehrswende, neue Mobilität: Das Forschungsprojekt AVENUE21 (TU Wien) skizziert konkrete Szenarien für die Zukunft der Stadt. Wir fassen die Wiener Ergebnisse in einer kleinen Serie zusammen. Folge 5: Szenarien. Lokale Gestaltbarkeit der Übergangszeit.

Für eine aktive Politik hat die Zukunft stets schon begonnen. Die Gesellschaft entwickelt sich mit dem Blick voraus, Wirtschaft und Wissenschaft liefern Ideen, Szenarien, Produkte. Die Zukunft der Stadt zum Beispiel – nichts anderes als eine unendliche Geschichte.

Kapitel 5 des Wiener Forschungsprojekts AVENUE 21 thematisiert die „Lokale Gestaltbarkeit der Übergangszeit“. Anhand von drei Szenarien werden die erforderlichen Entscheidungsprozesse hinsichtlich der eingebundenen Akteure, der eingesetzten Mittel und der konkreten Entwicklung der Standorte untersucht. Dabei plädieren die Forscher für die Übernahme unternehmerischer Strategien in das Verwaltungshandeln (Governance). Neben den gesetzlich legitimierten Akteuren sollen Unternehmen, NGOs und die „Zivilgesellschaft“ einbezogen werden. Die Einflussnahme des öffentlichen Sektors soll zugunsten der Märkte, die selbstregulierende Kräfte entfalten könnten, dereguliert werden.

Markt, Politik, „Zivilgesellschaft“

In einem Markt-getriebenen Ansatz sollen maßgeschneiderte Servicepakete privater Anbieter, die als Teil automatisierter „Ökosysteme“ erlebt werden, dominieren. Via App wählen Nutzer die Komfortkategorie sowie das Ziel aus und können dann aus verschiedenen Angeboten ihre Zeit-, Routen- und Kostenprioritäten wählen. Mobilitätspakete sollen eine schnittstellenfreie, sichere und komfortable Fortbewegung ermöglichen. Die Shuttles sollen mit integriertem Infotainment genutzt werden können.

Die Stadtregionen implementieren Verkehrsmanagementzentralen, die Verkehrsflüsse automatisch analysieren und steuern. Sukzessive soll zur Entlastung der Zentren eine dynamische Bepreisung des Mobilitätsnetzes eingeführt werden. Aus den Einnahmen soll der Bedarf an Infrastrukturinvestitionen gedeckt werden. Angebot und Einsatz von Flottenfahrzeugen soll tageszeitabhängig und kosteneffizient gesteuert werde. Mobilität wird über Preisregulierung gesteuert. Waren- und Paketlieferungen werden über Mobility Hubs befördert. Und: Nichtautomatisierte Fahrzeuge erhalten keine Zufahrtsrechte in die Quartiere.

Im Politik-getriebenen Ansatz bildet ein integriertes multimodales Verkehrsnetz das Rückgrat von Mobilität und Siedlungsentwicklung. In Quartieren wird eine hohe urbane Dichte und Nutzungsmischung forciert, um die Tauglichkeit für ‚sanfte‘ Mobilität zu erhöhen. Probleme, so die Wiener Forscher, ergäben sich aus dem Wegfall von Einnahmen – klar, der automatisierte und vernetzte Verkehr (avV) kennt weder Parkgebühren noch Verkehrsstrafen.  

Das Umsteigen zwischen Verkehrsmitteln soll digital und baulich so leicht wie möglich gestaltet werden. Siedlungs- und Verkehrsentwicklung soll verstärkt an hochrangigen Achsen des Öffentlichen Verkehrs (ÖV) ausgerichtet werden. Automatisierte Fahrzeuge werden in die Angebotspalette integriert. Politik und Planung treiben die Quartiersentwicklung mit gezielter Infrastrukturentwicklung voran.

Dass dies alles auch im Politik-getrieben Ansatz nicht ganz einfach ist, wird aus der Feststellung der Forscher deutlich: Handlungsschwerpunkte müssen „über Jahrzehnte diskutiert und getestet“ werden.

Im Zivilgesellschaftlich-getriebenen Ansatz soll „aus lokalen Bedürfnissen heraus gedacht werden“. Einzelpersonen und Gruppen agierten hier als „Pioniere eines technologischen, auf Nachhaltigkeit und Suffizienz ausgerichteten Wandels der Mobilität“. Von diesen Personen und Gruppen kämen Initiativen und Strategien zur Verkehrsvermeidung. Automatisierte und vernetzte Fahrzeuge würden nur im Kontext des Sharing und in geringen Geschwindigkeiten eingesetzt. „Angesichts multipler Krisenphänomene, bedingt durch eine ökologisch zerstörerische Wirtschaftsweise und ein Vertrauensverlust in die Politik“ werde ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel angenommen.

Alternative Lebensweisen, neue Welt

In diesem Kapitel verlassen die Forscher gänzlich den Bereich üblicher Sprache und Diskussionen. Zitat-Beispiel: „Es wird davon ausgegangen, dass sich die antagonistischen und transformativen sozialen Bewegungen im Raum spiegeln und sich die Heterogenität unterschiedlicher sozialer Gruppierungen auch räumlich repräsentiert.“ Gesellschaft als manipulative Masse, aufgeteilt in Gruppen. Alternative Lebensweisen sollen helfen, eine Welt neu zu gestalten. Die Versorgungsinfrastruktur der Community müsse so ausgerichtet sein, dass sie zu „unseren Gärten ins Grüne“ funktioniere. Man könne sich weitgehend unabhängig vom globalen Güter- und Finanzmarkt organisieren. Zuerst müsse damit begonnen werden, sich die Parkstreifen anzueignen und zu begrünen.

In der Gegenüberstellung der drei Betrachtungsweisen kommen die Forscher mit der Einschätzung der möglichen Stakeholder zu dem nicht ganz überraschenden Ergebnis, dass es nämlich kollaborativer Planungsprozesse bedarf und dass es für viele Herausforderungen des avV keine universelle Lösung gibt. Beim Markt-getriebenen Ansatz profitiert die Stadt gegenüber dem Umland, beim Politik-getriebenen vor allem der ländliche Raum und die Selbstorganisierte Mobilität würde das Stadt-Land-Gefälle reduzieren. Sichtbar wird der automatisierte und vernetzte Verkehr nach allen drei Szenarien vor allem in der Umstellung des Straßenraumes in den Zentren (Verkehrsberuhigung/Trennung der Nutzungen).

Der beste Verkehr ist kein Verkehr

In alle drei Szenarien zeigt sich der Widerspruch zwischen belebten öffentlichen Räumen mit unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern und Nutzungen und dem avF bei höheren Geschwindigkeiten. Die Rückgewinnung des öffentlichen Raumes sei nur durch begleitende Maßnahmen zur Verkehrsvermeidung möglich. In allen Szenarien seien zusätzliche planerische beziehungsweise steuernde Maßnahmen nötig, um die Ziele der Verkehrswende mit der Nutzung von avV zu vereinbaren.  Folgende Schritte sehen die Forscher:

  • Der gering und hoch automatisierte Verkehr müsse koordiniert werden.
  • Die regionalen und überregionalen ÖV-Angebote verlören ihr Alleinstellungsmerkmal durch personalisierte Mobilitätsdienstleistungen.
  • Der automatisierte Shuttle-Verkehr dürfe die Zersiedelung nicht fördern.
  • Mobilitätsplattformen müssten Verbundeffekte fördern.
  • Regionale Mobilitätsdienstleister müssten Besiedelungs-Dichtevorteile durch hohe Nachfrage erhalten.

 

Theorie und Praxis, Wahlprogramme

Man darf gespannt sein, inwieweit diese Überlegungen in die Parteiprogramme zur kommenden Bundestagswahl Eingang finden. 

 

Unser AufmacherbildGrand Central Station, New York City. Foto: Pixabay

 

Demnächst hier bei motorfuture: Die Zukunft der Stadt, Folge 6: Handlungsfelder.

 

Mehr zum Thema

Die Zukunft der Stadt, Folge 1: Das Projekt

Die Zukunft der Stadt, Folge 2: Straßen und Quartiere

Die Zukunft der Stadt, Folge 3: Die Ausgangssituation

Die Zukunft der Stadt, Folge 4: Automatisierter und vernetzter Verkehr im langen Level 4

 

Die Studie: „AVENUE21. Automatisierter und vernetzter Verkehr: Entwicklungen des urbanen Europa“ ist Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsvorhabens an der Technischen Universität (TU) Wien, gefördert von der Daimler und Benz Stiftung. Anhand ausgewählter Städte und Ballungsgebiete wurde untersucht, welche Szenarien für Europa zu erwarten sind und welche Entwicklungen sich bereits heute weltweit abzeichnen.

 

Der Autor: Dietrich Austermann ist Jurist und CDU-Politiker. Von 1982 bis 2005 war er Mitglied im Deutschen Bundestag, von 2005 bis 2008 gehörte er der Landesregierung Schleswig-Holstein als Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr an.

 

 

Dietrich Austermann